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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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sumerischen und ägyptischen Schrift.

    Ägyptische Hieroglyphen: Trauerschrift zum Tode der Prinzes­sin Entiu­ny
    Auch wenn jedes dieser Systeme aus eigenen charakte­ristischen Zeichen bestand, die nicht aus Ägypten oder Mesopotamien entlehnt waren, ist kaum vorstellbar, daß die Erschaffer nichts von den Schriften ihrer Nachbarn und Handelspartner gewußt haben sollen.
    Es wäre schon ein sehr großer Zufall, wenn all diese mediterranen und nahöstlichen Kulturen die Schrift im Abstand von wenigen Jahrhunderten unabhängig von­einander erfunden hätten, nachdem die Menschheit Jahrmillionen ohne sie existiert hatte. Deshalb halte ich Ideendiffusion, wie bei Sequoyahs Silbenschrift, für eine denkbare Interpretation. Demnach wurden die Ägypter und andere Völker von den Sumerern auf die Idee der Schrift gebracht und lernten vielleicht auch einige Re­geln der sumerischen Schrift kennen, entwickelten dann aber eigene Regeln und Buchstabenformen.
    Kehren wir nun zu der am Anfang dieses Kapitels ge­stellten Frage zurück: Warum entstand und verbreite­te sich die Schrift in einigen Gesellschaften, in vielen anderen aber nicht? Als Ausgangspunkt für die Erör­terung dieser Frage bieten sich die Beschränkungen an, die mit den Möglichkeiten der frühen Schrift systeme, ihres Anwendungsbereichs und ihrer Anwender zu­sammenhingen.
    Die ältesten Schriften waren unvollständig, mehrdeu­tig oder kompliziert – oft auch alles zugleich. So konnte die früheste sumerische Keilschrift nicht zur Wieder­gabe normaler Prosa verwendet werden, sondern dien­te lediglich für Aufzeichnungen im Telegrammstil, de­ren Vokabular sich auf Namen, Zahlen, Maßeinheiten, Wörter für zu zählende Objekte und eine kleine Zahl von Adjektiven beschränkte. Auf unsere Zeit übertra­gen wäre das so, als müßte ein Justizangestellter »Müller 27 fett Schaf« schreiben, weil es der deutschen Sprache an den benötigten Wörtern und grammatischen Ele­menten mangelte, um zu formulieren: »Hiermit wird verfügt, daß Herr Müller die 27 von ihm dem Staat ge­schuldeten fetten Schafe abzuliefern hat.« Die späte­re sumerische Keilschrift ermöglichte zwar Prosa, aber nur in der oben geschilderten komplizierten Mischung aus Hunderten von Logogrammen, phonetischen Zei­chen und stummen Determinativen. Verglichen da­mit war die Linear-B-Schrift des mykenischen Grie­chenlands mit ihren rund 90 Silbenzeichen plus Logo­grammen wenigstens leichter zu erlernen. Dafür war sie recht mehrdeutig. Konsonanten am Wortende wurden grundsätzlich ausgelassen, und ein und dasselbe Zei­chen diente zur Abbildung mehrerer verwandter Kon­sonanten (z. B. gab es nur ein Zeichen für l und r, eins für p, b und ph und eins für g, k und kh). Sicher haben Sie schon einmal die Verwirrung erlebt, die entstehen kann, wenn ein Japaner beim Sprechen einer Fremd­sprache nicht zwischen l und r unterscheidet. Stellen Sie sich das Chaos vor, das entstünde, wenn unser Alphabet mit den anderen erwähnten Konsonanten ebenso gleichmacherisch verfahren würde! Das wäre ungefähr so, als buchstabierte man die englischen Worte »rap« (klopfen), »lap« (Schoß), »lab« (Labor) und »laugh« (la­chen) alle genau gleich.

    1 Frau mit Kind, nördliches Küstentiefland Neuguineas (Insel Siar) .

    33 Sprecher einer zu den Bantu-Sprachen gehörenden Niger-Kongo-Sprache: Nelson Mandela, Präsident von Südafrika .
    Ein Nachteil bestand auch darin, daß nur wenige Men­schen diese frühen Schriften erlernten. Die Kunst des Schreibens blieb ausgebildeten Schreibern vorbehalten, die im Dienst von König oder Kirche standen. So gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Mykener außer­halb der Palastbürokratie die Linear-B-Schrift lesen, ge­schweige denn schreiben konnten. Da sich bei der Ana­lyse erhaltener Texte einzelne Schreiber aufgrund ihrer Handschrift unterscheiden lassen, können wir feststel­len, daß sämtliche erhaltenen Linear-B-Dokumente aus den Palästen von Knossos und Pylos das Werk von nur 75 beziehungsweise 40 Schreibern sind.
    Der Anwendungsbereich dieser telegrammartigen, plumpen, mehrdeutigen Schriften war ebenso begrenzt wie die Zahl ihrer Anwender. Wer hofft, anhand alter Schriften Aufschluß darüber zu erhalten, wie die Su­merer um 3000 v. Chr. dachten und fühlten, sieht sich schnell enttäuscht. Bei den ersten sumerischen Texten handelt es sich um nüchtern­kühle Aufstellungen aus der Hand von Palast- und Tempelbürokraten. Etwa 90

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