Arm und Reich
sumerischen und ägyptischen Schrift.
Ägyptische Hieroglyphen: Trauerschrift zum Tode der Prinzessin Entiuny
Auch wenn jedes dieser Systeme aus eigenen charakteristischen Zeichen bestand, die nicht aus Ägypten oder Mesopotamien entlehnt waren, ist kaum vorstellbar, daß die Erschaffer nichts von den Schriften ihrer Nachbarn und Handelspartner gewußt haben sollen.
Es wäre schon ein sehr großer Zufall, wenn all diese mediterranen und nahöstlichen Kulturen die Schrift im Abstand von wenigen Jahrhunderten unabhängig voneinander erfunden hätten, nachdem die Menschheit Jahrmillionen ohne sie existiert hatte. Deshalb halte ich Ideendiffusion, wie bei Sequoyahs Silbenschrift, für eine denkbare Interpretation. Demnach wurden die Ägypter und andere Völker von den Sumerern auf die Idee der Schrift gebracht und lernten vielleicht auch einige Regeln der sumerischen Schrift kennen, entwickelten dann aber eigene Regeln und Buchstabenformen.
Kehren wir nun zu der am Anfang dieses Kapitels gestellten Frage zurück: Warum entstand und verbreitete sich die Schrift in einigen Gesellschaften, in vielen anderen aber nicht? Als Ausgangspunkt für die Erörterung dieser Frage bieten sich die Beschränkungen an, die mit den Möglichkeiten der frühen Schrift systeme, ihres Anwendungsbereichs und ihrer Anwender zusammenhingen.
Die ältesten Schriften waren unvollständig, mehrdeutig oder kompliziert – oft auch alles zugleich. So konnte die früheste sumerische Keilschrift nicht zur Wiedergabe normaler Prosa verwendet werden, sondern diente lediglich für Aufzeichnungen im Telegrammstil, deren Vokabular sich auf Namen, Zahlen, Maßeinheiten, Wörter für zu zählende Objekte und eine kleine Zahl von Adjektiven beschränkte. Auf unsere Zeit übertragen wäre das so, als müßte ein Justizangestellter »Müller 27 fett Schaf« schreiben, weil es der deutschen Sprache an den benötigten Wörtern und grammatischen Elementen mangelte, um zu formulieren: »Hiermit wird verfügt, daß Herr Müller die 27 von ihm dem Staat geschuldeten fetten Schafe abzuliefern hat.« Die spätere sumerische Keilschrift ermöglichte zwar Prosa, aber nur in der oben geschilderten komplizierten Mischung aus Hunderten von Logogrammen, phonetischen Zeichen und stummen Determinativen. Verglichen damit war die Linear-B-Schrift des mykenischen Griechenlands mit ihren rund 90 Silbenzeichen plus Logogrammen wenigstens leichter zu erlernen. Dafür war sie recht mehrdeutig. Konsonanten am Wortende wurden grundsätzlich ausgelassen, und ein und dasselbe Zeichen diente zur Abbildung mehrerer verwandter Konsonanten (z. B. gab es nur ein Zeichen für l und r, eins für p, b und ph und eins für g, k und kh). Sicher haben Sie schon einmal die Verwirrung erlebt, die entstehen kann, wenn ein Japaner beim Sprechen einer Fremdsprache nicht zwischen l und r unterscheidet. Stellen Sie sich das Chaos vor, das entstünde, wenn unser Alphabet mit den anderen erwähnten Konsonanten ebenso gleichmacherisch verfahren würde! Das wäre ungefähr so, als buchstabierte man die englischen Worte »rap« (klopfen), »lap« (Schoß), »lab« (Labor) und »laugh« (lachen) alle genau gleich.
1 Frau mit Kind, nördliches Küstentiefland Neuguineas (Insel Siar) .
33 Sprecher einer zu den Bantu-Sprachen gehörenden Niger-Kongo-Sprache: Nelson Mandela, Präsident von Südafrika .
Ein Nachteil bestand auch darin, daß nur wenige Menschen diese frühen Schriften erlernten. Die Kunst des Schreibens blieb ausgebildeten Schreibern vorbehalten, die im Dienst von König oder Kirche standen. So gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Mykener außerhalb der Palastbürokratie die Linear-B-Schrift lesen, geschweige denn schreiben konnten. Da sich bei der Analyse erhaltener Texte einzelne Schreiber aufgrund ihrer Handschrift unterscheiden lassen, können wir feststellen, daß sämtliche erhaltenen Linear-B-Dokumente aus den Palästen von Knossos und Pylos das Werk von nur 75 beziehungsweise 40 Schreibern sind.
Der Anwendungsbereich dieser telegrammartigen, plumpen, mehrdeutigen Schriften war ebenso begrenzt wie die Zahl ihrer Anwender. Wer hofft, anhand alter Schriften Aufschluß darüber zu erhalten, wie die Sumerer um 3000 v. Chr. dachten und fühlten, sieht sich schnell enttäuscht. Bei den ersten sumerischen Texten handelt es sich um nüchternkühle Aufstellungen aus der Hand von Palast- und Tempelbürokraten. Etwa 90
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