Arm und Reich
Prozent der Schrift tafeln in den ältesten bekannten sumerischen Archiven, die in der Stadt Uruk entdeckt wurden, sind buchhalterische Auflistungen von abgelieferten Gütern, ausgegebenen Nahrungsrationen und verteilten Landwirtschaftsprodukten. Erst später, als die Sumerer den Schritt über Logogramme hinaus zur phonetischen Abbildung getan hatten, begannen sie mit dem Verfassen narrativer Prosa, etwa von Propaganda und Legenden.
Die Mykener erreichten nicht einmal dieses Stadium. Ein Drittel aller Linear-B-Tafeln aus dem Palast von Knossos enthält Aufstellungen über Schafe und Wolle, während ein großer Teil der Schrifttafeln im Palast von Pylos Auskunft über Flachsmengen gibt. Die Linear-B-Schrift war so mehrdeutig angelegt, daß ihre Verwendung auf die Palastbürokratie beschränkt blieb, deren begrenztes Vokabular eindeutige Interpretationen zuließ. Für eine literarische Verwendung der Linear-B-Schrift fehlt jeder Hinweis. Ilias und Odyssee wurden von Barden, die keiner Schrift mächtig waren, ersonnen und mündlich tradiert; erst Hunderte von Jahren später wurden diese Epen nach der Entwicklung des griechischen Alphabets auch in Schrift form festgehalten.
Ein ähnlich begrenzter Anwendungsbereich kennzeichnet die frühe ägyptische, mesoamerikanische und chinesische Schrift. Die ältesten ägyptischen Hieroglyphen dienten zum Festhalten buchhalterischer Aufstellungen sowie religiöser und staatlicher Propaganda. Nicht viel anders war es bei den Mayas, deren erhaltene Schriften neben Propaganda vor allem Geburten, Thronbesteigungen und Siege der Herrscher sowie astronomische Beobachtungen von Priestern zum Gegenstand haben. Die ältesten Zeugnisse der chinesischen Schrift stammen aus der Spätzeit der Shang-Dynastie und geben religiöse Weissagungen über dynastische Angelegenheiten wieder, die in sogenannte Orakelknochen eingeritzt wurden. Einer dieser Texte lautet so: »Der König las die Bedeutung des Sprungs [in einem vor Hitze gesprungenen Knochen] und sagte: ›Wird das Kind an einem Regententag geboren, so steht es unter einem sehr guten Stern.‹«
Heute ist man versucht zu fragen, warum denn Gesellschaften, die früh in den Besitz einer Schrift gelangten, die Mehrdeutigkeit in Kauf nahmen, die das Schreiben auf eine kleine Zahl von Funktionen und Schreibern beschränkte. Doch schon diese Frage verdeutlicht die Kluft zwischen der antiken Sichtweise und unserer heutigen, die von der Erwartung einer Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten geprägt ist. Gerade die gewollte eingeschränkte Anwendung früher Schrift en widersetzte sich der Entwicklung eindeutigerer Schriftsysteme. Nach dem Willen mesopotamischer Könige und Priester sollte die Schrift dazu dienen, daß amtliche Schreiber Aufstellungen über Schafe anfertigen konnten, die dem Staat als Abgabe geschuldet wurden, nicht aber zum Verfassen von Gedichten oder gar zum Schmieden von Komplotten durch die Untertanen. Wie der Anthropologe Claude Lévi-Strauss einmal formulierte, bestand die Hauptfunktion der frühen Schrift darin, »die Knechtung von Mitmenschen zu erleichtern«. Bis auch nichtamtliche Personen zu schreiben begannen, verging noch viel Zeit, in der die Schriftsysteme einfacher wurden und ihre Ausdrucksmöglichkeiten wuchsen.
So verschwand die Linear-B-Schrift mit dem Untergang der mykenischen Kultur um 1200 v. Chr., und Griechenland fiel wieder zurück in die Schrift losigkeit. Als die Schrift im 8. Jahrhundert v. Chr. erneut in Griechenland Einzug hielt, war sie ebenso wie ihre Anwender und Anwendungen gänzlich verändert. Das neue Schrift system war keine mehrdeutige, mit Logogrammen vermischte Silbenschrift, sondern ein Alphabet, abgeleitet von dem der Phönizier und verbessert durch die getrennte Darstellung von Vokalen. Statt zum Erstellen von Listen über Schafe, die nur von Palastschreibern gelesen werden konnten, diente die neue alphabetische Schrift von Anfang an zum Verfassen von Poesie und heiteren Texten, die zur privaten Lektüre bestimmt waren. Das älteste Zeugnis dieser Schrift stammt etwa aus dem Jahr 740 v. Chr. und wurde in einen athenischen Weinkrug geritzt. Es handelte sich um einen Vers, der einen Tanzwettbewerb ankündigte: »Wer von allen Tänzern am flinkesten tanzt, soll diese Vase als Preis gewinnen.« Das nächste Beispiel besteht aus drei Versen im daktylischen Hexameter, die in eine Tasse gekratzt wurden: »Ich bin
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