Arm und Reich
hätten sie die Schrift oder jedenfalls die Idee dazu vielleicht von diesen Zentren übernommen, wie es Inder, Mayas und die meisten anderen schrift -besitzenden Gesellschaften taten. Doch die Entfernung war nun einmal zu groß, und so blieb ihnen die Schrift bis in die jüngere Vergangenheit vorenthalten.
Besonders offenkundig ist die Bedeutung der Geographie am Beispiel von Hawaii und Tonga. Beide trennten über 6000 Kilometer Ozean von den nächstgelegenen Schriftkulturen. Die anderen erwähnten Gesellschaft en veranschaulichen dagegen, daß Entfernungen, per Luft -linie gemessen, kein geeignetes Maß für den Grad der Abgeschiedenheit menschlicher Kulturen darstellen. Die Anden, die westafrikanischen Königreiche und die Mississippimündung lagen nur rund 2000, 2500 und 1100 Kilometer von den jeweils nächstgelegenen Schrift kulturen entfernt (Mexiko, Nordafrika, Mexiko). Das sind viel geringere Distanzen als die, welche das Alphabet überwinden mußte, um von seinem Geburtsort am Ostrand des Mittelmeers innerhalb von 2000 Jahren nach Irland, Äthiopien und Südostasien zu gelangen. Menschen können ökologische Barrieren und Wasserflächen nun einmal nicht wie Vögel überfliegen – sie werden von ihnen zumindest gebremst. Zwischen den Staaten Nordafrikas (mit Schrift) und Westafrikas (ohne Schrift) lag die für Landwirtschaft und städtische Siedlungen gänzlich ungeeignete Sahara. Ähnlich trennten die Wüsten im Norden Mexikos die städtischen Zentren Südmexikos von den Reichen im Tal des Mississippi. Kontakte zwischen Südmexiko und den Anden erforderten entweder eine Seereise oder eine lange Kette von Landkontakten über die enge, bewaldete und nie für größere Siedlungen erschlossene Landenge von Darién. So waren die Anden, Westafrika und das Mississippital von schriftkundigen Gesellschaften relativ stark isoliert.
Das soll nicht heißen, daß jene schriftlosen Gesellschaften völlig isoliert waren. Haustiere aus Vorderasien fanden am Ende den Weg durch die Sahara nach Westafrika, und auch islamische Einflüsse sowie die arabische Schrift drangen später dorthin vor. Mais breitete sich von Mexiko in die Anden und später auch zum Mississippi aus. Wir sahen jedoch schon in Kapitel 9, daß die Nord-Süd-Achsen und die ökologischen Barrieren innerhalb Afrikas und Amerikas die Ausbreitung von Anbaupflanzen und Haustieren verzögerten. Die Geschichte der Schrift illustriert auf verblüffende Weise, welchen Einfluß Geographie und Ökologie auch auf die Ausbreitung menschlicher Erfindungen nahmen.
KAPITEL 12
Mutter der Not
Die Evolution der Technik
A m 3. Juli 1908 machten Archäologen bei Ausgrabungsarbeiten in der minoischen Ruinenstätte von Phaistos auf Kreta einen der bedeutendsten Funde der Technikgeschichte. Auf den ersten Blick sah der Gegenstand, der da ans Licht gekommen war, gar nicht wie etwas Besonderes aus: Es handelte sich um eine kleine, flache, runde unbemalte Tonscheibe mit einem Durchmesser von etwas mehr als 16 cm. Bei näherer Untersuchung stellte sich heraus, daß die Scheibe auf beiden Seiten Schriftzeichen trug, angeordnet auf einer Linie, die in fünf Spiraldrehungen vom Rand zur Mitte lief. Die insgesamt 241 Zeichen oder Buchstaben waren fein säuberlich durch vertikale Linien in Gruppen aus mehreren Zeichen aufgeteilt, die möglicherweise Wörter darstellten. Der Schreiber mußte seine Arbeit penibel geplant haben, so daß der Platz auf der Spirallinie vollständig ausgefüllt war und zugleich ausreichte.
Seit dem Tag ihrer Ausgrabung gibt die Scheibe Schriftforschern Rätsel auf. Die Zahl unterschiedlicher Zeichen (45) läßt auf eine Silbenschrift und nicht auf ein Alphabet schließen. Ihre Entzifferung gelang bisher jedoch nicht, und die Formen der Zeichen weisen keinerlei Ähnlichkeit mit denen irgendeines anderen bekannten Schriftsystems auf. In den 90 Jahren seit ihrer Entdeckung tauchte keine einzige weitere Tafel mit den seltsamen Zeichen auf. Deshalb steht bis heute die Frage im Raum, ob es sich um eine auf Kreta entstandene Schrift oder einen Import von außen handelte.
Die Scheibe von Phaistos
Für Historiker, die sich mit Technikgeschichte befassen, wirft die Scheibe von Phaistos ein noch größeres Rätsel auf. Das geschätzte Datum ihrer Entstehung (um 1700 v. Chr.) macht sie mit Abstand zum ältesten Zeugnis der Druckkunst. Statt von Hand, wie bei allen Texten der späteren Linear-A- und
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