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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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hätten sie die Schrift oder jedenfalls die Idee dazu vielleicht von diesen Zentren übernommen, wie es Inder, Mayas und die meisten anderen schrift -besitzenden Gesellschaften taten. Doch die Entfernung war nun einmal zu groß, und so blieb ihnen die Schrift bis in die jüngere Vergangenheit vorenthalten.
    Besonders offenkundig ist die Bedeutung der Geogra­phie am Beispiel von Hawaii und Tonga. Beide trennten über 6000 Kilometer Ozean von den nächstgelegenen Schriftkulturen. Die anderen erwähnten Gesellschaft en veranschaulichen dagegen, daß Entfernungen, per Luft -linie gemessen, kein geeignetes Maß für den Grad der Abgeschiedenheit menschlicher Kulturen darstellen. Die Anden, die westafrikanischen Königreiche und die Mis­sissippimündung lagen nur rund 2000, 2500 und 1100 Kilometer von den jeweils nächstgelegenen Schrift kultu­ren entfernt (Mexiko, Nordafrika, Mexiko). Das sind viel geringere Distanzen als die, welche das Alphabet über­winden mußte, um von seinem Geburtsort am Ostrand des Mittelmeers innerhalb von 2000 Jahren nach Irland, Äthiopien und Südostasien zu gelangen. Menschen kön­nen ökologische Barrieren und Wasserflächen nun ein­mal nicht wie Vögel überfliegen – sie werden von ihnen zumindest gebremst. Zwischen den Staaten Nordafrikas (mit Schrift) und Westafrikas (ohne Schrift) lag die für Landwirtschaft und städtische Siedlungen gänzlich un­geeignete Sahara. Ähnlich trennten die Wüsten im Nor­den Mexikos die städtischen Zentren Südmexikos von den Reichen im Tal des Mississippi. Kontakte zwischen Südmexiko und den Anden erforderten entweder eine Seereise oder eine lange Kette von Landkontakten über die enge, bewaldete und nie für größere Siedlungen er­schlossene Landenge von Darién. So waren die Anden, Westafrika und das Mississippital von schriftkundigen Gesellschaften relativ stark isoliert.
    Das soll nicht heißen, daß jene schriftlosen Gesell­schaften völlig isoliert waren. Haustiere aus Vordera­sien fanden am Ende den Weg durch die Sahara nach Westafrika, und auch islamische Einflüsse sowie die ara­bische Schrift drangen später dorthin vor. Mais breite­te sich von Mexiko in die Anden und später auch zum Mississippi aus. Wir sahen jedoch schon in Kapitel 9, daß die Nord-Süd-Achsen und die ökologischen Barrieren in­nerhalb Afrikas und Amerikas die Ausbreitung von An­baupflanzen und Haustieren verzögerten. Die Geschich­te der Schrift illustriert auf verblüffende Weise, welchen Einfluß Geographie und Ökologie auch auf die Ausbrei­tung menschlicher Erfindungen nahmen.

KAPITEL  12
Mutter der Not
Die Evolution der Technik
    A m 3. Juli 1908 machten Archäologen bei Ausgra­bungsarbeiten in der minoischen Ruinenstätte von Phaistos auf Kreta einen der bedeutendsten Funde der Technikgeschichte. Auf den ersten Blick sah der Gegen­stand, der da ans Licht gekommen war, gar nicht wie etwas Besonderes aus: Es handelte sich um eine kleine, flache, runde unbemalte Tonscheibe mit einem Durch­messer von etwas mehr als 16 cm. Bei näherer Unter­suchung stellte sich heraus, daß die Scheibe auf beiden Seiten Schriftzeichen trug, angeordnet auf einer Linie, die in fünf Spiraldrehungen vom Rand zur Mitte lief. Die insgesamt 241 Zeichen oder Buchstaben waren fein säuberlich durch vertikale Linien in Gruppen aus meh­reren Zeichen aufgeteilt, die möglicherweise Wörter darstellten. Der Schreiber mußte seine Arbeit penibel geplant haben, so daß der Platz auf der Spirallinie voll­ständig ausgefüllt war und zugleich ausreichte.
    Seit dem Tag ihrer Ausgrabung gibt die Scheibe Schriftforschern Rätsel auf. Die Zahl unterschiedlicher Zeichen (45) läßt auf eine Silbenschrift und nicht auf ein Alphabet schließen. Ihre Entzifferung gelang bisher jedoch nicht, und die Formen der Zeichen weisen kei­nerlei Ähnlichkeit mit denen irgendeines anderen be­kannten Schriftsystems auf. In den 90 Jahren seit ihrer Entdeckung tauchte keine einzige weitere Tafel mit den seltsamen Zeichen auf. Deshalb steht bis heute die Fra­ge im Raum, ob es sich um eine auf Kreta entstandene Schrift oder einen Import von außen handelte.

    Die Scheibe von Phaistos
    Für Historiker, die sich mit Technikgeschichte befas­sen, wirft die Scheibe von Phaistos ein noch größeres Rätsel auf. Das geschätzte Datum ihrer Entstehung (um 1700 v. Chr.) macht sie mit Abstand zum ältesten Zeug­nis der Druckkunst. Statt von Hand, wie bei allen Tex­ten der späteren Linear-A- und

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