Arm und Reich
durchsickern. Oder es wird lediglich die Grundidee bekannt: Jemand hat es irgendwie geschafft, etwas Bestimmtes zu erreichen. Doch auch solche knappen Informationen könnten andere inspirieren, eigene Wege zum gleichen Ziel zu suchen. In dem Fall würden wir von Ideendiffusion sprechen. Eine bemerkenswerte Episode in der Geschichte der Schrift war die Entstehung der Silbenschrift, die um 1820 auf dem Gebiet des heutigen US-Bundesstaats Arkansas von einem Cherokee-Indianer namens Sequoyah für die Sprache der Cherokee entwickelt wurde. Sequoyah hatte beobachtet, daß die Weißen Zeichen auf Papier malten und daraus großen Vorteil zogen, wenn sie lange Reden hielten, die sie nur abzulesen brauchten. Was es genau mit diesen Zeichen auf sich hatte, blieb ihm jedoch verborgen, da Sequoyah (wie die meisten Cherokee vor 1820) Analphabet war und Englisch weder sprechen noch lesen konnte. Von Beruf Schmied, entwickelte er ein Verfahren, um über die Schulden seiner Kunden Buch zu führen. Dazu fertigte er ein Bild von jedem seiner Kunden an; dann zeichnete er verschieden große Kreise und Linien, die den geschuldeten Geldbetrag symbolisierten.
Um 1810 beschloß Sequoyah, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen und ein Schriftsystem für die Cherokee-Sprache zu schaffen. Wieder begann er mit dem Zeichnen von Bildern, gab diesen Ansatz jedoch bald als zu kompliziert und künstlerisch anspruchsvoll auf. Als nächstes fing er an, für jedes Wort ein eigenes Zeichen zu erfinden, doch erneut wuchs sein Mißmut, als er Tausende von Zeichen geschaffen hatte und feststellte, daß er immer noch mehr brauchte.
Schließlich kam Sequoyah darauf, daß sich Worte aus einer relativ kleinen Zahl unterschiedlicher Laute zusammensetzen, die immer wieder auftauchen – den Silben. Daraufhin entwickelte er zunächst 200 Silbenzeichen, verringerte die Zahl aber nach und nach auf 85, von denen die meisten aus einem Konsonanten und einem Vokal bestanden.
Auf der Suche nach geeigneten Zeichen übte er sich im Abschreiben von Buchstaben aus einer Englischfibel, die er von einem Schullehrer bekommen hatte. Etwa zwei Dutzend von Sequoyahs Cherokee-Silbenzeichen basierten auf den Buchstaben, deren Bekanntschaft er auf diese Weise machte. Natürlich erhielt jeder eine völlig andere Bedeutung, da Sequoyah den Laut, den sie in der englischen Sprache repräsentierten, gar nicht kannte. Zum Beispiel wählte er die Formen der Buchstaben D, R, b und h für die Cherokee-Silben a, e, si und ni , während er der Form der Ziffer 4 die Silbe se zuordnete. Andere Zeichen gewann er durch Abwandlung englischer Buchstaben, beispielsweise,undfür die Silben yu, sa und na . Wieder andere Zeichen waren vollständige Neuerfindungen, wie ,und für ho, li und nu . In linguistischen Fachkreisen genießt die von Sequoyah entwickelte Silbenschrift hohe Anerkennung wegen ihrer genauen Abbildung der Cherokee-Laute und ihrer relativ leichten Erlernbarkeit. Binnen kurzer Zeit erreichten die Cherokee eine Alphabetisierungsrate von annähernd 100 Prozent, schafften sich eine Druckmaschine an, ließen Sequoyahs Zeichen in Drucktypen gießen und begannen mit der Herstellung eigener Bücher und Zeitschriften.
Von Sequoyah entwickelter Zeichensatz zur Darstellung der Silben der Cherokee-Sprache
Die Cherokee-Silbenschrift ist eines der besten Beispiele für eine durch Ideendiffusion entstandene Schrift.
Wir wissen, daß Sequoyah Papier und anderes Schreibmaterial, den Grundgedanken eines Schriftsystems, die Idee zur Verwendung einzelner Zeichen sowie die Formen einiger Dutzend Zeichen übernahm. Da er jedoch des Englischen nicht mächtig war, erfuhr er weder die Details anderer Schriften noch die Regeln, die ihnen zugrunde lagen. Umgeben von Alphabeten, die er nicht verstehen konnte, erfand er deshalb eine neue Silbenschrift und tat es damit den Minoern gleich, nur 3500 Jahre später.
Sequoyas Beispiel verdeutlicht, wie etliche Schrift systeme der Antike durch Ideendiffusion entstanden sein dürften. Das Han’gul-Alphabet, das der koreanische König Sejong im Jahr 1446 n. Chr. für die koreanische Schrift entwickelte, war offensichtlich vom Blockformat der chinesischen Zeichen und dem Alphabetsprinzip der mongolischen oder tibetischbuddhistischen Schrift angeregt worden. König Sejong erfand jedoch selbständig die Formen der Han’gul-Buchstaben sowie eine Reihe von Besonderheiten seines Alphabets, wie die
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