Arm und Reich
des Nestors köstlich Trinkgefäß. Wer aus mir trinkt, den werden geschwind hinforttragen aphrodisische Gelüste.« Die ältesten Zeugnisse des etruskischen und römischen Alphabets sind ebenfalls Inschrift en auf Tassen und Weingefäßen. Erst später wurde die Schrift als leicht erlernbares Instrument der privaten Kommunikation auch für Zwecke von Staat und Verwaltung umfunktioniert. Die Abfolge der Entwicklung war insofern bei der alphabetischen Schrift genau umgekehrt wie bei den älteren Bilder- und Silbenschriften.
Die beschränkten Anwendungsbereiche und Anwenderkreise früher Schriften lassen ahnen, warum die Schrift in der menschlichen Evolution erst so spät auftauchte. Alle mit hoher oder gewisser Wahrscheinlichkeit eigenständigen Erfindungen der Schrift (in Mesopotamien, Mexiko, China und Ägypten) sowie alle frühen Adaptationen jener Systeme (z. B. auf Kreta, im Iran, in der Türkei, im Industal und in der Maya-Region) waren eingebettet in Gesellschaften mit sozialer Schichtung und komplexen zentralistischen politischen Institutionen (deren notwendigem Zusammenhang mit der Landwirtschaft in einem späteren Kapitel nachgegangen wird). Die ältesten Schriftsysteme waren ganz auf den Bedarf jener politischen Institutionen zugeschnitten (z. B. Buchhaltung, Lobpreisung des Herrschers), und die Schreiber waren hauptamtliche Bürokraten, die von Nahrungsüberschüssen miternährt wurden, die bäuerliche Untertanen erarbeiteten. Von Jäger-Sammler-Kulturen wurde die Schrift dagegen niemals entwickelt oder auch nur übernommen, da bei ihnen weder der institutionelle Bedarf noch die sozialen und landwirtschaft lichen Mechanismen zur Erzeugung von Nahrungsüberschüssen, deren es zum »Durchfüttern« von Schreibern bedurfte, vorhanden waren.
Die Einführung der Landwirtschaft und sodann eine jahrtausende lange gesellschaftliche Evolution waren demnach ebenso grundlegende Voraussetzungen für die Evolution der Schrift wie für die Evolution von Mikroben, den Auslösern unserer epidemischen Krankheiten. Unabhängig entstand die Schrift nur im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds, in Mexiko und wahrscheinlich in China, also jenen Regionen, in denen die Landwirtschaft in der jeweiligen Hemisphäre am frühesten auftauchte. Einmal aus der Taufe gehoben, fand die Schrift durch Handel, Eroberung und Religion den Weg von diesen wenigen Kulturen zu anderen mit ähnlichen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen.
Die Landwirtschaft war mit anderen Worten eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die Evolution beziehungsweise frühe Übernahme der Schrift. Am Anfang dieses Kapitels erwähnte ich, daß einige Gesellschaften mit Landwirtschaft und komplexer politischer Ordnung bis zum Beginn der Neuzeit noch keine Schrift entwickelt oder übernommen hatten. Für uns Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts, die es gewohnt sind, Lesen und Schreiben als unentbehrlichen Bestandteil einer komplexen Gesellschaft zu betrachten, ist das kaum vorstellbar, und doch war unter diesen Nachzüglern eines der größten Reiche der Welt von 1520 n. Chr., das südamerikanische Inka-Reich. Weiter gehörten dazu das mächtige Inselreich Tonga, das im späten 18. Jahrhundert entstandene hawaiianische Reich, sämtliche Staaten und Reiche in Afrika südlich der Sahara und im tropischen Westafrika vor der Ankunft des Islams sowie die größten indianischen Gesellschaft en Nordamerikas im Tal des Mississippi und an dessen Nebenflüssen. Wie kam es, daß all diese Kulturen schrift los blieben, obwohl sie die gleichen Voraussetzungen besaßen wie andere, die dieses Stadium hinter sich ließen?
An dieser Stelle muß daran erinnert werden, daß die große Mehrzahl der schrift besitzenden Gesellschaft en diese von anderen, benachbarten Gesellschaft en übernommen hatte oder sich von ihnen zur Entwicklung einer eigenen Schrift hatte anregen lassen, während eine unabhängige Erfindung die große Ausnahme war. Die gerade aufgezählten schrift losen Gesellschaft en waren solche, in denen die Landwirtschaft später aufkam als in Mesopotamien, Mexiko und China (nicht ganz sicher ist dies bei Mexiko und der Andenregion, dem Ort der späteren Entstehung des Inka-Reichs). Mit genügend Zeit hätten schrift lose Gesellschaften früher oder später vielleicht auch von selbst eine Schrift entwickelt. Wären sie nicht so weit von Mesopotamien, Mexiko und China entfernt gewesen,
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