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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Linear-B-Schriften, wa­ren die Zeichen auf der Scheibe mit Hilfe von Stempeln in weichen, anschließend durch Brennen gehärteten Ton geprägt worden. Offenbar verfügte der Drucker über ei­nen Satz von mindestens 45 Stempeln, einen für jedes auf der Scheibe vorkommende Zeichen. Die Herstellung der Stempel muß sehr zeitaufwendig gewesen sein, und man darf wohl annehmen, daß sie nicht nur zum Drucken dieses einen Dokuments bestimmt waren. Ihr An­wender war sicher ein fleißiger Schreiber, der sein Werk mit Hilfe, der Stempel wesentlich schneller und sauberer erledigen konnte, als wenn er jedes der komplizierten Zeichen von Hand in den Ton hätte prägen müssen.
    Die Scheibe von Phaistos war so etwas wie ein Vor­bote der nächsten Druckversuche der Menschheit, die ebenfalls das Prinzip von Druckformen und -lettern zur Grundlage hatten, es aber auf Papier und Tinte übertru­gen. Diese Versuche sollten jedoch erst 2500 Jahre spä­ter in China und 3100 Jahre später im mittelalterlichen Europa erfolgen. Wie kam es, daß sich die frühe Ton­scheiben-Drucktechnik auf Kreta oder an anderen Or­ten des antiken Mittelmeerraums nicht in großem Stil durchsetzte? Warum wurde dieses Druckverfahren um 1700 v. Chr. auf Kreta erfunden und nicht zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in Mesopotamien, Mexiko oder an einem der anderen frühen Entstehungsorte der Schrift? Warum vergingen danach Tausende von Jahren, bis die nächsten Schritte hin zu Papier, Tinte und Druckerpres­se getan wurden? Die Scheibe von Phaistos hat für Hi­storiker einen bedrohlichen Aspekt. Wenn Erfindungen derart unvorhersehbar sind, wie es die Scheibe nahezu­legen scheint, dann sind womöglich alle Versuche, in der Geschichte der Technik Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, von vornherein zum Scheitern verurteilt.
    Technik in Form von Waffen und Transportmitteln gab einigen Völkern die unmittelbaren Instrumente zur Erweiterung ihres Herrschaftsgebiets und zur Unterwer­fung anderer Völker. Damit kommt ihr eine zentrale Be­deutung für den Gang der Geschichte zu. Warum aber waren Eurasier und nicht amerikanische Indianer oder subsaharische Afrikaner die Erfinder von Feuerwaffen, seetüchtigen Schiffen und Ausrüstungen aus Stahl? Die gleiche Frage könnte für die meisten anderen wichtigen technischen Errungenschaften gestellt werden, von der Druckerpresse über Glas bis hin zur Dampfmaschine. Warum waren immer Eurasier die Erfinder? Und warum verwendeten alle Neuguineer und australischen Abori­gines im Jahr 1800 n. Chr. immer noch ähnliche Stein­werkzeuge wie die, denen die Bewohner Eurasiens und des größten Teils von Afrika schon Jahrtausende zuvor Lebewohl gesagt hatten (und das, obwohl Neuguinea und Australien über reiche Kupfer- und Eisenerzvor­kommen verfügen)? All das erklärt die verbreitete An­nahme, Eurasier seien erfinderischer und intelligenter als andere Völker.
    Falls auf der anderen Seite Unterschiede in der mensch­lichen Neurobiologie, welche die unterschiedliche tech­nische Entwicklung der Kontinente erklären könnten, nicht existieren, stellt sich die Frage, was denn die wirk­lichen Gründe sind. Eine Erklärungsalternative bietet die Theorie des erfinderischen Genius. Ihr zufolge geht der technische Fortschritt in hohem Maße auf das Konto einer kleinen Zahl genialer Erfinder wie Johannes Gu­tenberg, James Watt, Thomas Edison und der Brüder Wright. Alle waren Europäer oder Nachfahren von Eu­ropäern, die nach Amerika ausgewandert waren. Auch Archimedes und andere geniale Geister der Antike wa­ren Europäer. Hätten derartige Genies ebensogut in Tas­manien oder Namibia das Licht der Welt erblicken kön­nen? Sollte die Geschichte der Technik etwa von den zu­fälligen Geburtsorten einer kleinen Schar von Erfindern bestimmt worden sein?
    Nach einem dritten Erklärungsansatz kommt es nicht auf die Erfindungsgabe des einzelnen an, sondern auf die Innovationsbereitschaft von Gesellschaften. Eini­ge seien hoffnungslos konservativ, trieben nur Nabel­schau und stünden jeder Veränderung feindselig gegen­über. Einen solchen Eindruck gewinnen viele Bewohner des Westens, die sich für die Entwicklung der Dritten Welt einsetzen und nach einiger Zeit resigniert aufge­ben. Den einzelnen Menschen in den jeweiligen Ländern scheint es nicht an Intelligenz zu mangeln; das Problem scheint vielmehr auf gesellschaftlicher Ebene zu liegen. Wie sonst ist zu erklären, daß die Aborigines im au­stralischen Nordosten nie Pfeil

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