Arm und Reich
Linear-B-Schriften, waren die Zeichen auf der Scheibe mit Hilfe von Stempeln in weichen, anschließend durch Brennen gehärteten Ton geprägt worden. Offenbar verfügte der Drucker über einen Satz von mindestens 45 Stempeln, einen für jedes auf der Scheibe vorkommende Zeichen. Die Herstellung der Stempel muß sehr zeitaufwendig gewesen sein, und man darf wohl annehmen, daß sie nicht nur zum Drucken dieses einen Dokuments bestimmt waren. Ihr Anwender war sicher ein fleißiger Schreiber, der sein Werk mit Hilfe, der Stempel wesentlich schneller und sauberer erledigen konnte, als wenn er jedes der komplizierten Zeichen von Hand in den Ton hätte prägen müssen.
Die Scheibe von Phaistos war so etwas wie ein Vorbote der nächsten Druckversuche der Menschheit, die ebenfalls das Prinzip von Druckformen und -lettern zur Grundlage hatten, es aber auf Papier und Tinte übertrugen. Diese Versuche sollten jedoch erst 2500 Jahre später in China und 3100 Jahre später im mittelalterlichen Europa erfolgen. Wie kam es, daß sich die frühe Tonscheiben-Drucktechnik auf Kreta oder an anderen Orten des antiken Mittelmeerraums nicht in großem Stil durchsetzte? Warum wurde dieses Druckverfahren um 1700 v. Chr. auf Kreta erfunden und nicht zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in Mesopotamien, Mexiko oder an einem der anderen frühen Entstehungsorte der Schrift? Warum vergingen danach Tausende von Jahren, bis die nächsten Schritte hin zu Papier, Tinte und Druckerpresse getan wurden? Die Scheibe von Phaistos hat für Historiker einen bedrohlichen Aspekt. Wenn Erfindungen derart unvorhersehbar sind, wie es die Scheibe nahezulegen scheint, dann sind womöglich alle Versuche, in der Geschichte der Technik Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Technik in Form von Waffen und Transportmitteln gab einigen Völkern die unmittelbaren Instrumente zur Erweiterung ihres Herrschaftsgebiets und zur Unterwerfung anderer Völker. Damit kommt ihr eine zentrale Bedeutung für den Gang der Geschichte zu. Warum aber waren Eurasier und nicht amerikanische Indianer oder subsaharische Afrikaner die Erfinder von Feuerwaffen, seetüchtigen Schiffen und Ausrüstungen aus Stahl? Die gleiche Frage könnte für die meisten anderen wichtigen technischen Errungenschaften gestellt werden, von der Druckerpresse über Glas bis hin zur Dampfmaschine. Warum waren immer Eurasier die Erfinder? Und warum verwendeten alle Neuguineer und australischen Aborigines im Jahr 1800 n. Chr. immer noch ähnliche Steinwerkzeuge wie die, denen die Bewohner Eurasiens und des größten Teils von Afrika schon Jahrtausende zuvor Lebewohl gesagt hatten (und das, obwohl Neuguinea und Australien über reiche Kupfer- und Eisenerzvorkommen verfügen)? All das erklärt die verbreitete Annahme, Eurasier seien erfinderischer und intelligenter als andere Völker.
Falls auf der anderen Seite Unterschiede in der menschlichen Neurobiologie, welche die unterschiedliche technische Entwicklung der Kontinente erklären könnten, nicht existieren, stellt sich die Frage, was denn die wirklichen Gründe sind. Eine Erklärungsalternative bietet die Theorie des erfinderischen Genius. Ihr zufolge geht der technische Fortschritt in hohem Maße auf das Konto einer kleinen Zahl genialer Erfinder wie Johannes Gutenberg, James Watt, Thomas Edison und der Brüder Wright. Alle waren Europäer oder Nachfahren von Europäern, die nach Amerika ausgewandert waren. Auch Archimedes und andere geniale Geister der Antike waren Europäer. Hätten derartige Genies ebensogut in Tasmanien oder Namibia das Licht der Welt erblicken können? Sollte die Geschichte der Technik etwa von den zufälligen Geburtsorten einer kleinen Schar von Erfindern bestimmt worden sein?
Nach einem dritten Erklärungsansatz kommt es nicht auf die Erfindungsgabe des einzelnen an, sondern auf die Innovationsbereitschaft von Gesellschaften. Einige seien hoffnungslos konservativ, trieben nur Nabelschau und stünden jeder Veränderung feindselig gegenüber. Einen solchen Eindruck gewinnen viele Bewohner des Westens, die sich für die Entwicklung der Dritten Welt einsetzen und nach einiger Zeit resigniert aufgeben. Den einzelnen Menschen in den jeweiligen Ländern scheint es nicht an Intelligenz zu mangeln; das Problem scheint vielmehr auf gesellschaftlicher Ebene zu liegen. Wie sonst ist zu erklären, daß die Aborigines im australischen Nordosten nie Pfeil
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