Arm und Reich
Zahl von Zeichen bestand und obendrein komplizierter aufgebaut war als das von Gutenberg verwendete lateinische Alphabet. Die bei der Herstellung der Scheibe von Phaistos verwendete Drucktechnik war folglich viel primitiver und bot weniger Vorteile gegenüber dem Schreiben mit der Hand als Gutenbergs Druckpresse. Zu all diesen technischen Nachteilen kam noch hinzu, daß die Scheibe zu einer Zeit entstand, als die Kunst des Schreibens das Privileg einer kleinen Zahl von Palast- und Tempelschreibern war. Somit bestand wenig Nachfrage nach dem schönen Werk des Scheibenmachers und wenig Anreiz, in die Anfertigung von Dutzenden von Handstempeln zu investieren, die für weitere Scheiben erforderlich gewesen wären. Dagegen fanden sich angesichts des gewaltigen potentiellen Absatzmarkts für Druckerzeugnisse im mittelalterlichen Europa zahlreiche Investoren bereit, Gutenberg Geld zu leihen.
Von den ersten Steinwerkzeugen, die vor rund zweieinhalb Millionenjahren aufkamen, bis zu meinem Laserdrucker, der 1996 den völlig veralteten von 1992 ablöste und mit dem das Manuskript für dieses Buch ausgedruckt wurde, hat die Technik einen langen Weg zurückgelegt. Am Anfang verlief die Entwicklung unendlich langsam, und es vergingen Hunderttausende von Jahren ohne wahrnehmbare Veränderungen an den Steinwerkzeugen und ohne irgendwelche Hinweise darauf, daß auch Artefakte aus anderem Material hergestellt wurden. Heute dagegen hat der technische Fortschritt ein solches Tempo erreicht, daß man aus der Tageszeitung davon erfährt.
In diesem langen Prozeß der Beschleunigung lassen sich an zwei Punkten besonders bedeutsame Entwicklungssprünge ausmachen. Der erste fällt in den Zeitraum vor 100 000 bis 50 000 Jahren und wurde vermutlich durch genetische Veränderungen ausgelöst, nämlich durch die Evolution der modernen menschlichen Anatomie, die den Weg zur modernen Sprache, zur modernen Hirnfunktion oder zu beidem ebnete. Dieser Sprung führte zu Werkzeugen aus Knochen, steinernen Einzweck-Werkzeugen und solchen, die zu mehreren Zwecken benutztwerden konnten. Der zweite Sprung war das Resultat des Übergangs zur Seßhaftigkeit, der in verschiedenen Teilen der Welt zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgte (in manchen bereits vor 13 000 Jahren, in anderen bis heute noch nicht). In den meisten Fällen fiel dieser Schritt mit der Einführung der Landwirtschaft zusammen, die uns zum dauerhaften Aufenthalt in der Nähe unserer Felder, Obstgärten und Vorratsspeicher zwang.
Die seßhafte Lebensweise stellte einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte der Technik dar, weil sie es den Menschen ermöglichte, Besitztümer anzuhäufen, die zu schwer waren, um sie ständig mitzuführen. Jäger- und Sammlernomaden können nur Dinge ihr eigen nennen, die sich leicht von einem Ort zum anderen transportieren lassen. Wer oft das Lager wechselt und nicht über Fahrzeuge oder Zugtiere verfügt, dessen Besitz ist zwangsläufig auf Babys, Waffen und die notwendigsten Utensilien beschränkt. Das Mitschleppen von Töpferwaren und Druckerpressen ist völlig ausgeschlossen. Dieses praktische Problem erklärt zugleich, warum auf das frühe Auftauchen einiger Techniken eine rätselhaft lange Zeit folgte, in der ihre weitere Entwicklung stagnierte. Ein Beispiel: Bei den ältesten durch Funde dokumentierten Vorläufern der Töpferei handelt es sich um Statuetten aus gebranntem Ton, die vor 27 000 Jahren im heutigen Siedlungsgebiet der Tschechen und Slowaken angefertigt wurden, also lange vor der Entstehung der ältesten bekannten Gefäße aus gebranntem Ton in Japan (Alter rund 14 000 Jahre). Aus demselben Gebiet und derselben Zeit stammen auch die ältesten Zeugnisse der Webkunst, während der älteste Korb aus einem anderen Teil der Welt rund 13 000 Jahre und der älteste Webstofferst rund 9000 Jahre alt ist. Trotz dieser sehr frühen Anfänge blieb der Töpferei ebenso wie der Webkunst der Durchbruch versagt, bis der Schritt zur Seßhaftigkeit getan war und das Problem des Transports von Krügen und Webstühlen kein Hindernis mehr darstellte.
Abgesehen davon, daß sie die seßhafte Lebensweise und so auch die Anhäufung von Besitztümern ermöglichte, markierte die Landwirtschaft aus einem weiteren Grund einen Einschnitt in der Geschichte der Technik. Zum erstenmal in der Menschheitsgeschichte konnten nun ökonomisch differenzierte Gesellschaften entstehen, in denen
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