Arm und Reich
Erscheinungen tatsächlich die »Verschrottung« wichtiger Techniken zur Folge haben könnten. Eine Gesellschaft, die sich in einer Phase ihrer Geschichte gegen eine solche Technik entscheidet, würde sie bei benachbarten Gesellschaften weiter in Gebrauch sehen und könnte sie jederzeit erneut übernehmen (oder würde, falls sie es nicht täte, bald von den Nachbarn unterjocht werden). In geographisch isolierten Gesellschaften können vorüber gehende Erscheinungen jedoch leicht zum Dauerzustand werden.
Ein berühmtes Beispiel ist die Abkehr der Japaner vom Gewehr. Schußwaffen gelangten erstmals im Jahr 1543 nach Japan, als zwei mit Hakenbüchsen (primitiven Gewehren) bewaffnete portugiesische Abenteurer an Bord eines chinesischen Frachtschiffs eintrafen. Die Japaner waren von der neuen Waffe derart beeindruckt, daß es nicht lange dauerte, bis sie selbst Gewehre produzierten. Obendrein verbesserten sie die Funktionalität der Schießeisen deutlich, so daß Japan um 1600 n. Chr. mit besseren und einer größeren Zahl von Gewehren gerüstet war als jedes andere Land der Welt.
Doch es gab innerhalb der japanischen Gesellschaft auch Kräfte, die der Akzeptanz von Schußwaffen im Wege standen. Das Land besaß eine zahlenmäßig starke Klasse von Kriegern, den Samurai, denen Schwerter als Symbole ihres Standes und als Kunstwerke galten (und als Mittel zum Unterjochen der niederen Klassen dienten). Im Mittelpunkt der Kriegführung hatten in Japan bis dahin Manngegen-Mann-Kämpfe zwischen schwertfechtenden Samurai gestanden, die auf offenem Feld rituelle Reden hielten und hernach ihren ganzen Stolz dareinsetzten, graziös zu kämpfen. Dieses traditionelle Vorgehen wurde in Gegenwart gemeiner Soldaten, die ganz ungraziös mit Gewehren herumballerten, rasch lebensgefährlich. Hinzu kam, daß Gewehre eine ausländische Erfindung darstellten und als solche in Japan nach 1600 zunehmend in Verruf gerieten – wie alle anderen ausländischen Dinge auch. Die unter Samurai-Einfluß stehende Regierung begann, die Gewehrherstellung auf wenige Städte zu beschränken, führte sodann eine amtliche Genehmigungspflicht für dieses Gewerbe ein, erteilte Genehmigungen nur noch für Gewehre, die im staatlichen Auftrag produziert wurden, und verringerte schließlich das Auftragsvolumen so weit, bis Japan am Ende wieder fast zur schußwaffenfreien Zone wurde.
Auch unter den europäischen Herrschern jener Zeit gab es einige, die Gewehre verschmähten und sich bemühten, ihrer Verbreitung Schranken zu setzen. Ihnen war jedoch in Europa nie großer Erfolg beschert, da jedes Land, das Schußwaffen abschwor, fürchten mußte, von seinen schießwütigen Nachbarn prompt überrannt zu werden. Nur weil Japan eine bevölkerungsreiche, abgelegene Insel ist, konnte es sich die Ablehnung einer so wirksamen neuen Technik überhaupt leisten. Seine Sicherheit in der Isolation endete 1853 abrupt mit dem Besuch einer kanonengespickten amerikanischen Flotte unter Kommodore Perry, die Japan von der Notwendigkeit überzeugte, die Schußwaffenproduktion wiederaufzunehmen.
Japans Abkehr von Gewehren und Chinas Abwendung von der Ozeanschiffahrt (wie auch von mechanischen Uhren und wasserkraft getriebenen Spinnmaschinen) sind gut belegte historische Beispiele für technischen Rückschritt in mehr oder weniger stark isolierten Gesellschaften. Ähnliches ereignete sich schon in prähistorischer Zeit. Den Extremfall bilden die tasmanischen Aborigines, die selbst Knochenwerkzeuge und Fischfang aufgaben, um auf das niedrigste technische Niveau der jüngeren Geschichte zu sinken (Kapitel 14). Von den australischen Aborigines wird vermutet, daß sie Pfeil und Bogen zunächst übernahmen, später aber wieder darauf verzichteten. Die Bewohner der Inseln in der Torresstraße wandten sich vom Kanu ab, während die Gaua-Insulaner es ihnen gleichtaten, diesen Schritt später aber wieder rückgängig machten. Die Töpferei geriet in ganz Polynesien aus der Mode. Die meisten Polynesier und viele Melanesier kehrten auch Pfeil und Bogen als Kriegswaffe den Rücken. Die Polar-Eskimos gaben nicht nur Pfeil und Bogen, sondern auch das Kajak auf, während die Dorset-Eskimos außer auf Pfeil und Bogen auch auf den Bogenbohrer verzichteten und dem Hund als Haustier den Laufpaß gaben.
Diese zunächst grotesk anmutenden Beispiele veranschaulichen den Stellenwert von Geographie und Diffusion in der Geschichte der
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