Arm und Reich
Technik. Ohne Diffusion werden weniger Techniken erworben, und von den vorhandenen gehen mehr verloren.
Weil Technik wieder neue Technik zeugt, ist die Diffusion einer Erfindung von potentiell größerer Bedeutung als die Erfindung selbst. Die Geschichte der Technik ist ein Beispiel für einen autokatalytischen Prozeß, das heißt einen Prozeß, dessen Tempo sich immer weiter beschleunigt, weil er sich selbst als Katalysator dient. Wir staunen heute über die rasante Entwicklung des technischen Fortschritts seit der industriellen Revolution. Nicht minder eindrucksvoll war aber die Beschleunigung des technischen Fortschritts im Mittelalter, verglichen mit seiner Beschleunigung in der Bronzezeit, die wiederum seine Beschleunigung in der Jungsteinzeit in den Schatten stellte.
Einer der Gründe, warum die Technik ihr eigener Katalysator ist, liegt darin, daß Fortschritte stets von der vorhergehenden Lösung einfacherer Probleme abhängen. So begannen steinzeitliche Bauern nicht urplötzlich mit der Gewinnung und Verarbeitung von Eisen mit Hilfe von Schmelzöfen. Vielmehr wuchs die Eisentechnik auf der Grundlage jahrtausendelanger Erfahrungen mit Metallen, die in der Natur in Reinform vorkamen und weich genug waren, um auch ohne Erhitzung durch Hämmern in die gewünschte Form gebracht zu werden (Kupfer und Gold). Sie konnte ferner auf jahrtausendelangen Erfahrungen im Bau einfacher Öfen aufbauen, die für die Töpferei benötigt wurden, sowie auf der späteren Gewinnung von Kupfererzen und der Verarbeitung von Kupferlegierungen (Bronze), wofür niedrigere Temperaturen als bei der Eisenverarbeitung ausreichten. Sowohl in Vorderasien als auch in China setzten sich Eisengegenstände erst nach rund zweitausendjähriger Erfahrung mit Bronze durch. Die Zivilisationen der Neuen Welt hatten gerade erst mit der Herstellung von Bronzeartefakten begonnen, als die Europäer eintrafen und der eigenständigen Entwicklung abrupt ein Ende setzten.
Der andere Hauptgrund für den autokatalytischen Charakter der Technik besteht darin, daß neue Techniken und Werkstoffe die Entwicklung weiterer Techniken durch Rekombination ermöglichen. Warum etwa breitete sich die Drucktechnik im mittelalterlichen Europa so rasend schnell aus, nachdem Gutenberg 1455 seine Bibel gedruckt hatte, nicht aber nach der Herstellung der Scheibe von Phaistos durch jenen unbekannten Drucker um 1700 v. Chr.? Die Erklärung beruht zum Teil darauf, daß man in Europa in der Lage war, sechs technische Errungenschaften zusammenzufügen, von denen die meisten dem Hersteller der Scheibe von Phaistos noch unbekannt waren. Von diesen Errungenschaften – Papier, Drucktypen, Metallverarbeitung, Pressen, Tinte und Alphabetsschriften – waren zwei aus China nach Europa gekommen: Papier und die Idee der Drucktypen. Gutenbergs Entwicklung des Handsatzverfahrens mit gegossenen Metall-Lettern zur Lösung des fatalen Problems ungleicher Typengröße basierte auf zahlreichen metallurgischen Fortschritten: Stahl für Patrizen, Messing- oder Bronzelegierungen (später Stahl) für Druckplatten, Blei für Gußformen und eine Legierung aus Zinn, Zink und Blei für Schrifttypen. Gutenbergs Druckerpresse war eine Weiterentwicklung der Schraubenpresse, die ihm von der Wein- und Olivenölherstellung bekannt war, während die von ihm verwendete Druckfarbe eine Verbesserung existierender Tinten auf Ölbasis darstellte. Die in Europa verwendeten Schriften, ein Erbe der dreitausendjährigen Alphabetsentwicklung, boten sich zum Typendruck an, da nur einige Dutzend Buchstabenformen gegossen werden mußten (während die chinesische Schrift die Herstellung von mehreren Tausend solcher Formen erforderte).
In allen sechs Punkten mußte sich der Hersteller der Scheibe von Phaistos im Vergleich zu Gutenberg mit weit unterlegenen Techniken begnügen, die er zu einem Druckverfahren kombinierte. Als Druckoberfläche diente ihm Ton, der viel schwerer zu handhaben ist und mehr wiegt als Papier. Die metallurgischen Kenntnisse, Druckfarben und Pressen im Kreta der Zeit um 1700 v. Chr. waren viel primitiver als die des Jahres 1455 in deutschen Landen, so daß die Zeichen von Hand auf die Scheibe aufgebracht werden mußten, statt von beweglichen, in einen Metallrahmen gespannten und in Druckfarbe getauchten Typen aufgetragen zu werden. Bei der Schrift auf der Scheibe handelte es sich um eine Silbenschrift, die aus einer größeren
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