Arm und Reich
bäuerliche Untertanen eine Schicht von Spezialisten miternährten, die selbst keine Nahrung produzierten. Wie wir in Teil 2 dieses Buchs erfuhren, trat die Landwirtschaft jedoch auf den verschiedenen Kontinenten nicht zur gleichen Zeit auf den Plan. Wie ich in diesem Kapitel außerdem gezeigt habe, wird der Stand der Technik an einem bestimmten Ort nicht nur von lokalen Erfindungen bestimmt, sondern auch von der Diffusion von Techniken fremder Herkunft. Aus diesem Grund entwickelte sich die Technik tendenziell auf jenen Kontinenten am schnellsten, auf denen ihrer Diffusion die geringsten geographischen und ökologischen Hindernisse im Wege standen. Zudem wächst die Wahrscheinlichkeit der Erfindung und Annahme neuer Techniken mit der Zahl der Zivilisationen auf einem Kontinent, da sich Gesellschaften aus vielerlei Gründen in ihrer Innovationsfreudigkeit unterscheiden. Unter sonst gleichen Umständen entwickelt sich die Technik somit in großen, fruchtbaren und bevölkerungsreichen Regionen mit einer Vielzahl potentieller Erfinder und etlichen konkurrierenden Gesellschaften am schnellsten.
Lassen Sie mich nun zusammenfassen, wie die Variation dieser drei Faktoren – Zeitpunkt des Beginns der Landwirtschaft, Diffusionshemmnisse, Bevölkerungsgröße – geradewegs zu den beobachteten Unterschieden zwischen den Kontinenten in der Entwicklung der Technik führten. Eurasien (wozu wir aus praktischen Gründen auch Nordafrika zählen) stellt die größte Landmasse der Erde dar und beherbergt zugleich die größte Zahl konkurrierender Gesellschaften. Hier finden wir auch die beiden frühesten Zentren der Landwirtschaft: den Fruchtbaren Halbmond und China. Die beherrschende Ost-West-Achse Eurasiens ermöglichte es, daß zahlreiche Erfindungen, die sich an einem Ort durchgesetzt hatten, relativ rasch den Weg in andere Regionen Eurasiens mit vergleichbaren klimatischen Bedingungen fanden. Die ebenfalls stattliche Länge der eurasischen Nord-Süd-Achse steht im scharfen Kontrast zur Enge des Isthmus von Panama, um den Vergleich mit Amerika zu ziehen. Eurasien weist auch keine ernsten geographischen Hindernisse wie jene auf, von denen die Hauptachsen Afrikas und Amerikas durchbrochen werden. Geographische und ökologische Barrieren, die der Diffusion neuer Techniken im Wege standen, waren somit in Eurasien weniger bedeutsam als auf den anderen Kontinenten. Aufgrund dieser Faktoren war Eurasien derjenige Kontinent, auf dem die Beschleunigung der technischen Entwicklung nach dem Ende des Eiszeitalters am frühesten begann und zu der größten örtlichen Konzentration technischer Neuerungen führte.
Nord- und Südamerika werden gemeinhin als zwei getrennte Kontinente betrachtet. Sie sind allerdings seit mehreren Millionen Jahren miteinander verbunden und können zum Zweck des Vergleichs mit Eurasien getrost als Einheit behandelt werden. Der amerikanische Doppelkontinent stellt die zweitgrößte Landmasse der Erde dar, ist aber deutlich kleiner als Eurasien. Auch unterscheidet er sich durch seine geographische und ökologische Zweiteilung: Der Isthmus von Panama, an der engsten Stelle rund 50 Kilometer breit, bildet eine effektive geographische Trennlinie zwischen Nord- und Südamerika, während die Regenwälder der Landenge von Darién und die Wüste im Norden Mexikos ökologische Barrieren darstellen. So trennte die mexikanische Wüste die hochentwickelten Zivilisationen Mesoamerikas von denen Nordamerikas, während die Landenge von Panama die mesoamerikanischen Zivilisationen von denen der Anden und des Amazonasgebiets abschnitt. Hinzu kommt, daß die geographische Hauptachse des amerikanischen Doppelkontinents in Nord-Süd-Richtung verläuft, so daß die Diffusion technischer Errungenschaften zum größten Teil nur unter Überwindung eines geographischen (und klimatischen) Gefälles erfolgen konnte. Bis 3000 v. Chr. war zwar das Rad in Mesoamerika erfunden und das Lama in den Anden domestiziert, doch selbst 5000 Jahre später hatte noch immer keine Begegnung zwischen dem einzigen amerikanischen Lasttier und dem einzigen amerikanischen Rad stattgefunden, obgleich die Entfernung zwischen den Maya-Gesellschaften Mesoamerikas und der Nordgrenze des Inka-Reichs mit knapp 2000 km ein Katzensprung war, vergleicht man sie mit der zwischen Frankreich und China (rund 13000 km), die beide im Besitz von Rädern und Pferden waren. Ich denke, daß diese Faktoren den
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