Arm und Reich
Musketenbesitzer.
Die Übernahme von Techniken fremden Ursprungs kann in viele verschiedene Kontexte eingebettet sein. Hierzu zählen unter anderem friedlicher Handel (wie bei der Diffusion der Transistortechnik von den USA nach Japan im Jahr 1954), Spionage (Schmuggel von Seidenraupen von Südostasien in den Nahen Osten im Jahr 552 n. Chr.), Emigration (europaweite Diffusion französischer Techniken zur Glas- und Bekleidungsherstellung nach der Vertreibung von 200 000 Hugenotten aus Frankreich im Jahr 1685) und Krieg. Ein Beispiel für die letztere Variante sind die in China entwickelten Papierherstellungstechniken, die dem Islam nach dem Sieg eines arabischen über ein chinesisches Heer in Zentralasien im Jahr 751 in den Schoß fielen. Als man unter den Kriegsgefangenen einige Papiermacher entdeckte, brachte man sie nach Samarkand, um dort eine eigene Papierherstellung aufzubauen.
In Kapitel 11 sahen wir, daß die kulturelle Diffusion entweder in Form detaillierter »Blaupausen« oder durch vage Ideen erfolgen kann, die den Anstoß zur erneuten Erfindung geben. Die in Kapitel 11 am Beispiel der Ausbreitung der Schrift dargestellten Alternativen gelten im Bereich der Technik ganz genauso. Während im vorigen Abschnitt einige Beispiele für Blaupausen-Kopien genannt wurden, haben wir es beim Transfer der chinesischen Porzellanherstellung nach Europa mit einem Beispiel für langwierige Ideendiffusion zu tun. Porzellan, ein transparentes feinkeramisches Erzeugnis, wurde ungefähr im 7. Jahrhundert n. Chr. in China erfunden. Nachdem es im 14. Jahrhundert über die Seidenstraße nach Europa gelangt war (aber ohne das Rezept für seine Herstellung), erfreute es sich dort bald großer Beliebtheit in vornehmen Kreisen und zeitigte eine Vielzahl erfolgloser Imitationsversuche. Erst 1707 fand der deutsche Alchimist Johann Böttger nach zahllosen Experimenten, bei denen er diverse Mineralien und Tonsorten vermischte, die Lösung und gründete wenig später die heute berühmte Meißener Porzellanmanufaktur. Hiervon mehr oder weniger unabhängige Experimente führten später zur Gründung englischer und französischer Porzellanmanufakturen in Sèvres, Wedgwood und Spode. Europäische Keramiker hatten die chinesischen Herstellungstechniken somit gezwungenermaßen neu erfunden; allerdings schwebte ihnen das gewünschte Ergebnis stets vor Augen und diente als Inspiration.
Je nach geographischer Lage unterscheiden sich Gesellschaften auch darin, wie leicht sie Techniken fremder Herkunft durch Diffusion empfangen können. Von allen Völkern am stärksten isoliert waren in der jüngeren Vergangenheit die tasmanischen Aborigines, die auf einer Insel gut 150 Kilometer vor Australien, dem abgelegensten der Kontinente, lebten und keine seetüchtigen Schiffe besaßen. Die Tasmanier hatten 10 000 Jahre lang keinen Kontakt zu anderen Gesellschaften und erwarben neben den von ihnen selbst entwickelten Techniken keine weiteren von außen. Nach Australien und Neuguinea, vom asiatischen Festland durch den indonesischen Archipel getrennt, floß nur ein spärlicher Strom von Erfindungen aus Asien. Vom Prozeß der Diffusion profitierten jene Gesellschaften am stärksten, die auf den großen Kontinenten angesiedelt waren. In ihnen verlief der technische Fortschritt am schnellsten, weil sie nicht nur eigene Erfindungen ansammelten, sondern auch solche aus anderen Gesellschaften. So gelangte der mittelalterliche Islam aufgrund seiner zentralen Lage in Eurasien in den Besitz von Erfindungen aus Indien und China sowie des geistigen Erbes der alten Griechen.
Welche Bedeutung dem Prozeß der Diffusion – und der geographischen Lage, die ihn ermöglicht – zukommt, wird auf verblüffende Weise durch einige anders nicht zu begreifende Fälle demonstriert, bei denen Gesellschaften Techniken mit hohem Nutzwert den Rücken kehrten. Uns erscheint es selbstverständlich, daß nützliche Techniken, einmal erfunden, bis zum Erscheinen noch nützlicherer in Gebrauch bleiben. In der Realität müssen Techniken aber nicht nur erfunden, sondern auch gepflegt werden, und das bringt wiederum zahlreiche unberechenbare Faktoren ins Spiel. In jeder Gesellschaft erlangen zeitweise Strömungen die Oberhand, die wirtschaftlich nutzlose Dinge auf- und nützliche Dinge abwerten. Heute, wo fast jede Gesellschaft mit jeder in Kontakt steht, können wir uns nicht vorstellen, daß solche vorübergehenden
Weitere Kostenlose Bücher