Arm und Reich
neuguineischen Stämmen sind nie ungefährlich, aber diesmal stand die Begegnung unter einem besonders schlechten Stern. Dennoch flog mein Freund Doug mit einem Hubschrauber in das Gebiet, um friedliche Beziehungen zu den Fayu anzuknüpfen. Er kehrte zwar lebend, aber sehr mitgenommen zurück und wußte Bemerkenswertes zu berichten.
Wie er erfahren hatte, lebten die Fayu normalerweise in kleinen Familienverbänden weit verstreut in den Sümpfen und trafen sich nur ein- oder zweimal jährlich in größerem Kreis zum Brauttausch. Dougs Besuch fiel zufällig mit einem dieser Treffen zusammen, an dem einige Dutzend Fayu teilnahmen. Für uns ist eine Versammlung von ein paar Dutzend Menschen nichts Besonderes, aber für die Fayu ist das ein seltenes, furchterregendes Ereignis. Mörder stehen plötzlich den Verwandten ihrer Opfer gegenüber.
So erkannte ein männlicher Fayu den Mann, der seinen Vater umgebracht hatte. Der Sohn hob seine Axt und rannte auf den Mörder zu, wurde aber von seinen Freunden zu Boden geworfen und festgehalten; dann kam der Mörder herbeigerannt, um mit einer Axt auf den am Boden liegenden Sohn loszugehen, und wurde ebenfalls niedergerissen. Beide Männer schrien vor Zorn und wurden so lange festgehalten, bis sie offenbar erschöpft genug waren, um wieder losgelassen zu werden. Andere Männer tauschten hier und da wütende Beschimpfungen aus und hämmerten mit ihren Äxten auf den Boden. Während der gesamten mehrtägigen Versammlung blieb die Atmosphäre spannungsgeladen, und Doug betete, daß sein Besuch nicht in einem Ausbruch offener Gewalt enden möge.
Die Fayu sind eine Gruppe von etwa 400 Jäger- und Sammlernomaden, die vier verschiedenen Clans angehören und ein Gebiet von einigen hundert Quadratkilometern durchstreifen. Nach eigenen Angaben betrug ihre Zahl früher etwa 2000, doch waren sie von Mord und Totschlag untereinander stark dezimiert. Es mangelte ihnen an politischen und sozialen Mechanismen zur friedlichen Konfliktbeilegung, wie sie für uns selbstverständlich sind. Einige Zeit nach dem Besuch von Doug folgte ein beherztes Missionarsehepaar der Einladung einer Gruppe von Fayu und ließ sich bei ihnen nieder. Das war vor über zwölf Jahren, und mittlerweile ist es den beiden durch stetiges Bemühen gelungen, die Fayu zur Abkehr von der Gewalt zu bewegen. In der modernen Welt, in die sie nun eintreten, blicken die Fayu einer ungewissen Zukunft entgegen.
Viele andere Gruppen von Neuguineern und Amazonas-Indianern, die zuvor noch keinen Kontakt zur Außenwelt hatten, wurden in ähnlicher Weise durch das Wirken von Missionaren in die moderne Gesellschaft eingegliedert. Auf die Missionare folgten Lehrer und Ärzte, Verwaltungsbeamte und Soldaten. So oder ähnlich gingen Staat und Religion in der gesamten uns überlieferten Geschichte bei ihrem Vordringen Hand in Hand, ob nun auf friedliche (wie letztendlich bei den Fayu) oder gewaltsame Weise. Bei der gewaltsamen Variante waren es oft Regierungen, die Eroberungen organisierten, während Religionen die Rechtfertigung lieferten. Mögen Nomaden und Stammesge meinschaften auch mitunter Siege über Regierungen und Religionen davontragen, so ging der Trend in den letzten 13 000 Jahren doch eindeutig dahin, daß erstere die Verlierer und letztere die Gewinner waren.
Am Ende der letzten Eiszeit lebte ein großer Teil der Weltbevölkerung in ähnlichen Gemeinschaften wie die Fayu heute. Gesellschaftliche Ordnungen von wesentlich höherer Komplexität gab es zu jener Zeit nirgendwo auf der Welt. Noch im Jahr 1500 n. Chr. gehörten weniger als 20 Prozent der Landfläche unseres Planeten zu Staatswesen mit festen Grenzen, Verwaltungsapparaten und Rechtsordnungen. Heute ist alles Land mit Ausnahme der Antarktis zwischen Staaten aufgeteilt. Die Nachkommen jener Gesellschaften, die als erste zentralistische Herrschaft und organisierte Religion einführten, behaupten in der heutigen Welt eine dominierende Stellung. Neben Krankheiten, Schrift und Technik war die Kombination von Staat und Religion somit eines von vier Faktorenbündeln, die das Grundmuster des Geschichtsverlaufs als unmittelbare Ursachen bestimmten. Wie kam es zur Entstehung von Staat und Religion?
Fayu-Gruppen und moderne Staaten verkörpern entgegengesetzte Pole im Spektrum menschlicher Gesellschaften. Die moderne amerikanische Gesellschaft und die Fayu unterscheiden sich im Vorhandensein beziehungsweise
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