Arm und Reich
überhaupt irgendwo auf der Welt) kein derartiges System gab, das ihnen diese Vorteile hätte vor Augen führen können. Daraufhin beschlossen jene weitsichtigen Menschen, ihre ineffizienten kleinen Häuptlingsreiche zu größeren Staaten zu vereinigen, die in der Lage waren, ihnen die Segnungen einer umfangreichen Bewässerung zu bescheren.
Gegen diese »hydraulische Theorie« der Staatenbildung sind die gleichen Einwände zu erheben wie allgemein gegen Theorien, die Gesellschaftsverträge postulieren. Sie widmen sich lediglich dem Endstadium der Evolution komplexer Gesellschaften und lassen offen, was den Übergang von Jäger-Sammler-Gruppen zu Stammesgesell schaften und von Stammesgesellschaften zu Häuptlingsreichen in den vielen Jahrtausenden, bevor die Aussicht auf bewässerte Felder am Horizont heraufzog, bewirkte. Eine genaue Auswertung historischer und archäologischer Daten unterstützt die Interpretation der Bewässerung als Triebkraft der Staatenbildung keineswegs. So gab es in Mesopotamien, Nordchina, Mexiko und Madagaskar lange vor der Gründung der ersten Staaten kleinere Bewässerungsanlagen. Die Errichtung komplexer wasserwirtschaftlicher Systeme ging auch nicht mit der Entstehung von Staaten einher, sondern erfolgte in jeder der genannten Regionen erst viel später. In den meisten Staaten, die in der mesoamerikanischen Maya-Region und den Anden gegründet wurden, änderte sich nichts daran, daß Bewässerungssysteme von lokalen Gemeinschaften selbst gebaut und unterhalten wurden und von entsprechend bescheidenem Umfang waren. Komplexe wasserwirtschaftliche Systeme waren mithin selbst in jenen Gebieten, in denen sie schließlich entstanden, ein sekundäres Resultat der Staatenbildung, für die es andere Ursachen geben muß.
Eine in meinen Augen zutreffende Annahme über die Entstehung von Staaten basiert auf einer unbestrittenen Tatsache, die sehr viel weitreichendere Gültigkeit besitzt als die Korrelation zwischen Bewässerungsprojekten und der Entstehung einer kleinen Zahl von Staaten – nämlich, daß die Einwohnerzahl einer Region den höchsten Prognosewert für den Grad der gesellschaftlichen Komplexität besitzt. Wir wissen, daß Jäger-Sammler-Gruppen eine Größe von ein paar Dutzend Individuen, Stämme von einigen hundert, Häuptlingsreiche von einigen tausend bis zu einigen zehntausend und Staaten von über ca. 50000 haben. Neben dieser groben Korrelation von regionaler Bevölkerungsgröße und Gesellschaftstyp(Jäger-Sammler-Gruppen, Stamm usw.) gibt es innerhalb jeder dieser Kategorien einen näheren Zusammenhang zwischen Bevölkerung und gesellschaftlicher Komplexität in dem Sinne, daß beispielsweise Häuptlingsreiche mit großer Bevölkerung stärker zentralisiert, sozial geschichtet und differenziert waren als solche mit kleinerer Bevölkerung.
Diese Korrelationen deuten darauf hin, daß die regionale Bevölkerungsgröße oder -dichte irgendwie mit der Entstehung komplexer Gesellschaften zusammenhängt. Sie besagen aber nichts über die genaue Wirkungsweise von Bevölkerungsvariablen in einer Kausalkette, deren letztes Glied hochdifferenzierte Gesellschaften sind. Um dieser Kausalkette nachzuspüren, wollen wir zunächst noch einmal fragen, wie große, dichte Bevölkerungen eigentlich entstehen. Danach können wir untersuchen, warum eine große, aber wenig differenzierte Gesellschaft Probleme bekommt. Vor diesem Hintergrund werden wir uns dann wieder der Frage zuwenden, wie eine einfache Gesellschaft an Komplexität gewinnt, wenn die Bevölkerung wächst.
Wir wissen bereits, daß große Bevölkerungen beziehungsweise Bevölkerungsdichten voraussetzen, daß entweder Landwirtschaft betrieben wird oder außerordentlich günstige Bedingungen für Jäger und Sammler herrschen. Einige Jäger-Sammler-Kulturen erreichten den Organisationsgrad von Häuptlingsreichen, keine aber den von Staaten: Alle staatlichen Gemeinwesen ernähren ihre Bürger durch Landwirtschaft. Diese Überlegungen haben im Zusammenhang mit der eben aufgezeigten Korrelation von Bevölkerungsgröße und gesellschaftlicher Komplexität eine Huhnoder-Ei-Debatte über die Kausalzusammenhänge zwischen Landwirtschaft, Bevölkerungsvaria blen und gesellschaftlicher Komplexität ausgelöst. War die intensive Nahrungserzeugung die Ursache, die das Wachstum der Bevölkerung auslöste und auf irgendeine Weise zu einer komplexen gesellschaftlichen Organisation
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