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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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überhaupt irgend­wo auf der Welt) kein derartiges System gab, das ihnen diese Vorteile hätte vor Augen führen können. Darauf­hin beschlossen jene weitsichtigen Menschen, ihre ineffi­zienten kleinen Häuptlingsreiche zu größeren Staaten zu vereinigen, die in der Lage waren, ihnen die Segnungen einer umfangreichen Bewässerung zu bescheren.
    Gegen diese »hydraulische Theorie« der Staatenbil­dung sind die gleichen Einwände zu erheben wie all­gemein gegen Theorien, die Gesellschaftsverträge po­stulieren. Sie widmen sich lediglich dem Endstadium der Evolution komplexer Gesellschaften und lassen of­fen, was den Übergang von Jäger-Sammler-Gruppen zu Stammesgesell schaften und von Stammesgesellschaften zu Häuptlingsreichen in den vielen Jahrtausenden, be­vor die Aussicht auf bewässerte Felder am Horizont her­aufzog, bewirkte. Eine genaue Auswertung historischer und archäologischer Daten unterstützt die Interpretation der Bewässerung als Triebkraft der Staatenbildung kei­neswegs. So gab es in Mesopotamien, Nordchina, Mexi­ko und Madagaskar lange vor der Gründung der ersten Staaten kleinere Bewässerungsanlagen. Die Errichtung komplexer wasserwirtschaftlicher Systeme ging auch nicht mit der Entstehung von Staaten einher, sondern erfolgte in jeder der genannten Regionen erst viel spä­ter. In den meisten Staaten, die in der mesoamerikani­schen Maya-Region und den Anden gegründet wurden, änderte sich nichts daran, daß Bewässerungssysteme von lokalen Gemeinschaften selbst gebaut und unterhalten wurden und von entsprechend bescheidenem Umfang waren. Komplexe wasserwirtschaftliche Systeme waren mithin selbst in jenen Gebieten, in denen sie schließlich entstanden, ein sekundäres Resultat der Staatenbildung, für die es andere Ursachen geben muß.
    Eine in meinen Augen zutreffende Annahme über die Entstehung von Staaten basiert auf einer unbestrittenen Tatsache, die sehr viel weitreichendere Gültigkeit besitzt als die Korrelation zwischen Bewässerungsprojekten und der Entstehung einer kleinen Zahl von Staaten – nämlich, daß die Einwohnerzahl einer Region den höchsten Pro­gnosewert für den Grad der gesellschaftlichen Komplexi­tät besitzt. Wir wissen, daß Jäger-Sammler-Gruppen eine Größe von ein paar Dutzend Individuen, Stämme von ei­nigen hundert, Häuptlingsreiche von einigen tausend bis zu einigen zehntausend und Staaten von über ca. 50000 haben. Neben dieser groben Korrelation von regionaler Bevölkerungsgröße und Gesellschaftstyp(Jäger-Sammler-Gruppen, Stamm usw.) gibt es innerhalb jeder dieser Ka­tegorien einen näheren Zusammenhang zwischen Bevöl­kerung und gesellschaftlicher Komplexität in dem Sinne, daß beispielsweise Häuptlingsreiche mit großer Bevölke­rung stärker zentralisiert, sozial geschichtet und differen­ziert waren als solche mit kleinerer Bevölkerung.
    Diese Korrelationen deuten darauf hin, daß die regio­nale Bevölkerungsgröße oder -dichte irgendwie mit der Entstehung komplexer Gesellschaften zusammenhängt. Sie besagen aber nichts über die genaue Wirkungsweise von Bevölkerungsvariablen in einer Kausalkette, deren letztes Glied hochdifferenzierte Gesellschaften sind. Um dieser Kausalkette nachzuspüren, wollen wir zunächst noch einmal fragen, wie große, dichte Bevölkerungen eigentlich entstehen. Danach können wir untersuchen, warum eine große, aber wenig differenzierte Gesellschaft Probleme bekommt. Vor diesem Hintergrund werden wir uns dann wieder der Frage zuwenden, wie eine einfache Gesellschaft an Komplexität gewinnt, wenn die Bevöl­kerung wächst.
    Wir wissen bereits, daß große Bevölkerungen bezie­hungsweise Bevölkerungsdichten voraussetzen, daß ent­weder Landwirtschaft betrieben wird oder außerordent­lich günstige Bedingungen für Jäger und Sammler herr­schen. Einige Jäger-Sammler-Kulturen erreichten den Organisationsgrad von Häuptlingsreichen, keine aber den von Staaten: Alle staatlichen Gemeinwesen ernäh­ren ihre Bürger durch Landwirtschaft. Diese Überlegun­gen haben im Zusammenhang mit der eben aufgezeig­ten Korrelation von Bevölkerungsgröße und gesellschaftlicher Komplexität eine Huhn­oder-Ei-Debatte über die Kausalzusammenhänge zwischen Landwirtschaft, Bevölkerungsvaria blen und gesellschaftlicher Komple­xität ausgelöst. War die intensive Nahrungserzeugung die Ursache, die das Wachstum der Bevölkerung aus­löste und auf irgendeine Weise zu einer komplexen ge­sellschaftlichen Organisation

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