Arm und Reich
besaß.
Selbst in modernen Demokratien ist der Zugang zu kritischen Informationen auf einen kleinen Kreis von Personen beschränkt, die den Informationsfluß an die übrigen Mitglieder der Regierung kontrollieren und dadurch Einfluß auf Entscheidungen nehmen. Ein gutes Beispiel ist die Raketenkrise um Kuba von 1963. Damals waren Informationen und Diskussionen, von denen abhing, ob eine halbe Milliarde Menschen in den atomaren Abgrund gestürzt würden, anfangs auf einen zehnköpfigen, von Präsident Kennedy ernannten Ausschuß des nationalen Sicherheitsrats beschränkt; später übertrug Kennedy die endgültige Entscheidungsgewalt auf eine Gruppe von vier Personen, der neben ihm selbst drei seiner Minister angehörten.
Die Einflußnahme von zentraler Stelle und die wirtschaftliche Umverteilung in Form von Tributzahlungen (umgetauft in Steuern) erreichen in Staaten ein sehr viel größeres Ausmaß als in Häuptlingsreichen. Die ökonomische Spezialisierung ist stärker ausgeprägt, was dazu geführt hat, daß heute nicht einmal mehr die Bauern autark sind. Ein Zusammenbruch staatlicher Strukturen hat deshalb katastrophale Folgen, wie Britannien nach dem Abzug der römischen Truppen und Verwaltungsbeamten zwischen 407 und 411 n. Chr. erleben mußte. Selbst die ältesten Staaten in Mesopotamien übten eine zentralistische Kontrolle über die Wirtschaft aus. Nahrung wurde von vier Gruppen von Spezialisten produziert (Getreidebauern, Viehzüchtern, Fischern und Obst- und Gemüsebauern), von denen jede dem Staat ihre Erträge ablieferte und im Gegenzug die benötigten Güter, Geräte und Lebensmittel mit Ausnahme der von ihr selbst produzierten erhielt. So versorgte der Staat die Getreidebauern mit Saatgut und Zugtieren, trieb von den Viehzüchtern Wolle ein, tauschte diese im Fernhandel gegen Metall und andere wichtige Rohstoffe und entlohnte die Arbeitskräfte, die die unentbehrlichen Bewässerungsanlagen instand hielten, mit Nahrungsrationen.
Viele, vielleicht sogar die meisten der frühen Staaten setzten in viel größerem Umfang auf Sklavenarbeit als Häuptlingsreiche. Das lag nicht etwa daran, daß in Häuptlingsreichen eine menschenfreundlichere Gesinnung gegenüber besiegten Feinden herrschte, sondern vielmehr daran, daß die stärkere ökonomische Differenzierung in Staaten, mit Massenproduktion und öffentlicher Bautätigkeit, mehr Verwendungs möglichkeiten für Sklaven schuf. Hinzu kommt, daß aufgrund einer expansiveren Kriegführung mehr Gefangene gemacht werden konnten.
Aus ein oder zwei Verwaltungsebenen in Häuptlingsreichen wurde in Staaten ein Vielfaches, wie jeder weiß, der einmal das Organigramm einer staatlichen Verwaltung gesehen hat. Zur vertikalen Differenzierung gesellte sich die horizontale. Im Gegensatz zu den hawaiianischen Konohiki, die in ihrem Verwaltungsbezirk für sämtliche bürokratischen Aufgaben zuständig waren, bestehen staatliche Verwaltungen aus separaten Abteilungen für Wasserwirtschaft, Steuern, Militärdienst usw., von denen jede wiederum ihre eigene Hierarchie hat. Selbst kleine Staaten besitzen eine verzweigtere Bürokratie als große Häuptlingsreiche. So unterschied man in der Zentralverwaltung des westafrikanischen Staates Maradi über 130 Ämter, von denen jedes eine eigene Bezeichnung trug.
Die interne Konfliktregelung wurde in Staaten zunehmend durch Gesetze, Justiz und Polizei formalisiert. Gesetze waren oft schriftlich niedergelegt, da viele Staaten (mit wichtigen Ausnahmen wie dem Inka-Reich) eine schrift kundige Herrschaftselite besaßen – die Erfindung der Schrift fiel sowohl in Mesopotamien als auch in Mesoamerika etwa in die Zeit der ersten Staatsgründungen. Demgegenüber brachte kein einziges frühes Häuptlingsreich, das nicht an der Schwelle zum Staat stand, eine eigene Schrift hervor.
Die frühen Staaten besaßen staatliche Religionen und Tempel von einheitlicher Form. Ihre Könige galten oft als göttlich und erhielten in vielerlei Hinsicht eine Sonderbehandlung. So wurden die Azteken- und Inka-Herrscher auf Sänften getragen; bei den Inkas eilten Diener der Sänfte des Herrschers vorweg, um den Boden von jeder Unreinheit zu säubern. Die japanische Sprache enthält spezielle Pronomen, die ausschließlich zur Anrede des Kaisers dienen. Wenn die Könige nicht selbst Oberhaupt der Staatsreligion waren, setzten sie Hohepriester in dieses Amt ein. In Mesopotamien war der Tempel
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