Arm und Reich
geben kann (20 mal 19 geteilt durch 2), sind es bei 2000 Personen schon 1 999 000 mögliche Beziehungen. Jede davon stellt eine potentielle Zeitbombe dar, die explodieren und in einem tödlichen Streit enden könnte. Ein Mord zieht in Jäger-Sammler-Gruppen und Stammesgesellschaften aber in der Regel einen Racheakt nach sich, so daß ein endloser Kreislauf des Mordens mit destabilisierenden Folgen für das Gemeinwesen in Gang gesetzt wird.
In einer Gruppe, in der alle eng miteinander verwandt sind, schreiten bei Streitigkeiten Verwandte beider Parteien als Schlichter ein. In einem Stamm, wo immer noch viele miteinander verwandt sind und wenigstens jeder die Namen aller anderen kennt, vermitteln gemeinsame Verwandte und Freunde zwischen Streithähnen. Ist jedoch die magische Grenze von »ein paar Hundert«, bis zu der noch jeder jeden kennen kann, überschritten, handelt es sich bei Zweier-Interaktionen immer häufiger um solche zwischen nicht miteinander verwandten Fremden. Bricht eine gewalttätige Auseinandersetzung unter Fremden aus, werden nur wenige gemeinsame Freunde oder Verwandte der Beteiligten anwesend sein, die ein persönliches Interesse daran hätten, den Kampf zu stoppen. Statt dessen werden viele der Zuschauer Freunde oder Verwandte entweder der einen oder der anderen Konfliktpartei sein und sich auf deren Seite stellen, so daß eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen zwei Streithähnen leicht in eine Massenprügelei münden kann. Deshalb ist eine bevölkerungsreiche Gesellschaft, die ihren einzelnen Mitgliedern die Konfliktregelung selbst überläßt, dazu verurteilt, über kurz oder lang an inneren Spannungen zu zerbersten. Dieser Faktor allein würde schon erklären, warum Gesellschaften mit Tausenden von Mitgliedern nur existieren können, wenn sie über eine Zentralgewalt mit Gewaltmonopol als Konfliktregelungsinstanz verfügen.
Ein zweiter Grund ist die bei zunehmender Bevölkerungsgröße immer stärker ins Gewicht fallende Unmöglichkeit, gemeinschaftliche Entscheidungen zu treffen. In neuguineischen Dörfern, die so klein sind, daß a) Neuigkeiten und Informationen rasch jedermann zu Ohren kommen, b) auf Dorf-Vollversammlungen jeder jeden Redner ver stehen kann und c) jeder, der das Wort ergreifen möchte, auf Ver sammlungen auch die Gelegenheit dazu erhält, kann noch heute die gesamte erwachsene Dorfbevölkerung Entscheidungen gemeinsam fällen. In wesentlich größeren Gemeinschaften sind diese Voraussetzungen für gemeinsame Entscheidungen jedoch nicht mehr gegeben. Selbst in der heutigen Zeit der Mikrophone und Lautsprecher ist jedem klar, daß eine Versammlung mit Tausenden von Teilnehmern kein geeigneter Weg ist, um die Probleme einer Gruppe von dieser Größenordnung zu lösen. Deshalb bedarf eine größere Gesellschaft zentralistischer Strukturen, damit Entscheidungen auf effektive Weise getroffen werden können.
Der dritte Grund ist wirtschaftlicher Natur. Jede Gesellschaft benötigt Mechanismen zum Austausch von Gütern unter ihren Mitgliedern. Der einzelne findet oder produziert beispielsweise an manchen Tagen größere, an anderen kleinere Mengen eines lebensnotwendigen Guts. Da die Menschen unterschiedliche Begabungen haben, produziert jeder regelmäßig zuviel von dem einen und zuwenig von einem anderen Gut. In kleinen Gesellschaften mit wenigen Mit glieder-Paaren (siehe oben) kann der dadurch erforderliche Güteraustausch direkt zwischen einzelnen Mitgliedern beziehungsweise Familien abgewickelt werden (reziproker Austausch). Die gleichen mathematischen Verhältnisse, die der direkten paarweisen Konfliktlösung in großen Gesellschaften entgegenstehen, lassen jedoch auch den direkten paarweisen Austausch von Wirtschaftsgütern ineffizient erscheinen. Große Gesellschaften sind nur funktionsfähig, wenn die reziproke durch eine redistributive Ökonomie ergänzt wird. Diese beinhaltet die Abführung von Überschüssen, die von den einzelnen Mitgliedern produziert werden, an eine zentrale Instanz, die sie dann an andere Mitglieder mit entsprechendem Defizit umverteilt.
Eine letzte Überlegung, die ebenfalls für die Notwendigkeit einer komplexen Organisation großer Gesellschaften spricht, hängt mit der Bevölkerungsdichte zusammen. Große, auf Landwirtschaft gestützte Gesellschaften haben nicht nur mehr Mitglieder, sondern auch eine höhere Bevölkerungsdichte als kleine
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