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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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nicht nur religiöser Mittelpunkt, sondern auch Zentrum der wirtschaftlichen Umverteilung, der Schrift und der Handwerkstechnik.
    Bei all diesen Merkmalen von Staaten handelt es sich lediglich um extreme Ausprägungen von Entwicklun­gen, die schon den Übergang von Stammesgesellschaften zu Häuptlingsreichen eingeleitet hatten. Darüber hinaus schlugen Staaten jedoch verschiedene neue Richtungen ein. Hierzu zählt vor allem die Konstitution von Staaten nach politischen und territorialen Kriterien statt nach verwandtschaftlicher Zusammengehörigkeit wie bei Jä­ger-Sammler-Gruppen, Stammesgesellschaften und kleineren Häuptlingsreichen. Hinzu kommt, daß sich Gruppen und Stammesgesellschaften stets und Häupt­lingsreiche in der Regel aus Angehörigen einer einzi­gen ethnischen und sprachlichen Gruppe zusammen­setzen. Staaten – und vor allem sogenannte Reiche, die durch Vereinigung oder Eroberung von Staaten entstan­den – tragen dagegen regelmäßig einen multiethnischen, multilingualen Charakter. Auch werden staatliche Bü­rokraten nicht in erster Linie nach Sippenzugehörigkeit ausgewählt, wie in Häuptlingsreichen üblich, sondern zumindest teilweise nach Kriterien wie Ausbildung und Befähigung. In der jüngeren Vergangenheit wurde die Erblichkeit des höchsten Staatsamts häufig abgeschafft; viele Staaten wandten sich auch ganz vom System erbli­cher Klassenzugehörigkeit ab, das vom Häuptlingsreich übernommen worden war.
    In den letzten 13 000 Jahren ging der vorherrschende Trend hin zur Ablösung kleinerer gesellschaftlicher Ein­heiten durch größere mit höherem Differenzierungs­grad. Diese Entwicklung machte sich aber nur über sehr lange Zeiträume bemerkbar und war von zahllo­sen Rückschritten begleitet: Auf l000mal Vereinigung kam 999mal Auflösung. Wie wir täglich aus der Zei­tung erfahren, können große politische Einheiten (man nehme als Beispiel die ehemalige UdSSR, Jugoslawien oder die Tschechoslowakei) durchaus in kleinere zer­fallen, wie es schon dem Reich Alexanders des Großen vor über 2000 Jahren widerfuhr. Komplexere Einheiten tragen auch nicht immer den Sieg über weniger kom­plexe davon, wie das Beispiel der Reiche von Rom und China zeigt, die von »Barbaren« beziehungsweise mon­golischen »Horden« überrannt wurden. Der langfristi­ge Trend ging aber dennoch in die Richtung größerer, stärker differenzierter Gesellschaften, aus denen sich ir­gendwann Staaten entwickelten.
    Offenkundig ist auch, daß die Siege von Staaten über weniger komplexe Gesellschaften zum Teil darauf zu­rückzuführen sind, daß erstere gewöhnlich einen gro­ßen waffentechnischen Vorsprung besitzen und von der Bevölkerungszahl her weit überlegen sind. Daneben ha­ben Häuptlingsreiche und Staaten zwei weitere potenti­elle Vorteile auf ihrer Seite. Erstens kann eine zentrale Entscheidungs instanz Streitkräfte und Ressourcen kon­zentrierter zur Geltung bringen. Zweitens wecken offi­zielle Religionen und patriotische Gesinnungen, wie sie viele Staaten bei ihren Bürgern entfachen, bei Soldaten die Bereitschaft, »bis zum letzten Blutstropfen« zu kämp­fen, sprich das eigene Leben im Kampf zu opfern.
    Diese Bereitschaft wird den Bürgern moderner Staa­ten von Schulen, Kirchen und Regierungen immer wie­der eingehämmert, so daß uns gar nicht bewußt wird, welch radikale Abkehr von älteren Verhaltensweisen dar­in liegt. Fast jeder Staat hat seine eigenen Parolen, mit denen er die Bürger drängt, sich notfalls für den Staat zu opfern. »Für Volk und Vaterland« (Deutschland), »For King and Country« (England), »Por Dios y España« (Spa­nien) sind nur einige Beispiele. Ähnliche Gefühle moti­vierten im 16. Jahrhundert die Krieger der Azteken: »Es gibt nichts Schöneres als den Tod in der Schlacht, nichts ist so schön wie der blumige Tod, der Ihm [dem Azte­kengott Huitzilopochtli], der Leben schenkt, so teuer ist: In der Ferne kann ich ihn erblicken, oh, wie mein Herz sich nach ihm sehnt!«
    Für Angehörige von Jäger-Sammler-Gruppen und Stämmen sind derartige Gemütsbewegungen unvorstell­bar. In allen Berichten meiner neuguineischen Freun­de über ihre früheren Stammeskriege fand ich keinen einzigen Hinweis auf Stammespatriotismus, selbstmör­derische Angriffe oder überhaupt irgendwelche militä­rischen Vorgehensweisen, bei denen das Risiko, selbst den Tod zu finden, bewußt in Kauf genommen wurde. Vielmehr wurden Hinterhalte gelegt oder Feinde mit­großer

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