Arm und Reich
nicht nur religiöser Mittelpunkt, sondern auch Zentrum der wirtschaftlichen Umverteilung, der Schrift und der Handwerkstechnik.
Bei all diesen Merkmalen von Staaten handelt es sich lediglich um extreme Ausprägungen von Entwicklungen, die schon den Übergang von Stammesgesellschaften zu Häuptlingsreichen eingeleitet hatten. Darüber hinaus schlugen Staaten jedoch verschiedene neue Richtungen ein. Hierzu zählt vor allem die Konstitution von Staaten nach politischen und territorialen Kriterien statt nach verwandtschaftlicher Zusammengehörigkeit wie bei Jäger-Sammler-Gruppen, Stammesgesellschaften und kleineren Häuptlingsreichen. Hinzu kommt, daß sich Gruppen und Stammesgesellschaften stets und Häuptlingsreiche in der Regel aus Angehörigen einer einzigen ethnischen und sprachlichen Gruppe zusammensetzen. Staaten – und vor allem sogenannte Reiche, die durch Vereinigung oder Eroberung von Staaten entstanden – tragen dagegen regelmäßig einen multiethnischen, multilingualen Charakter. Auch werden staatliche Bürokraten nicht in erster Linie nach Sippenzugehörigkeit ausgewählt, wie in Häuptlingsreichen üblich, sondern zumindest teilweise nach Kriterien wie Ausbildung und Befähigung. In der jüngeren Vergangenheit wurde die Erblichkeit des höchsten Staatsamts häufig abgeschafft; viele Staaten wandten sich auch ganz vom System erblicher Klassenzugehörigkeit ab, das vom Häuptlingsreich übernommen worden war.
In den letzten 13 000 Jahren ging der vorherrschende Trend hin zur Ablösung kleinerer gesellschaftlicher Einheiten durch größere mit höherem Differenzierungsgrad. Diese Entwicklung machte sich aber nur über sehr lange Zeiträume bemerkbar und war von zahllosen Rückschritten begleitet: Auf l000mal Vereinigung kam 999mal Auflösung. Wie wir täglich aus der Zeitung erfahren, können große politische Einheiten (man nehme als Beispiel die ehemalige UdSSR, Jugoslawien oder die Tschechoslowakei) durchaus in kleinere zerfallen, wie es schon dem Reich Alexanders des Großen vor über 2000 Jahren widerfuhr. Komplexere Einheiten tragen auch nicht immer den Sieg über weniger komplexe davon, wie das Beispiel der Reiche von Rom und China zeigt, die von »Barbaren« beziehungsweise mongolischen »Horden« überrannt wurden. Der langfristige Trend ging aber dennoch in die Richtung größerer, stärker differenzierter Gesellschaften, aus denen sich irgendwann Staaten entwickelten.
Offenkundig ist auch, daß die Siege von Staaten über weniger komplexe Gesellschaften zum Teil darauf zurückzuführen sind, daß erstere gewöhnlich einen großen waffentechnischen Vorsprung besitzen und von der Bevölkerungszahl her weit überlegen sind. Daneben haben Häuptlingsreiche und Staaten zwei weitere potentielle Vorteile auf ihrer Seite. Erstens kann eine zentrale Entscheidungs instanz Streitkräfte und Ressourcen konzentrierter zur Geltung bringen. Zweitens wecken offizielle Religionen und patriotische Gesinnungen, wie sie viele Staaten bei ihren Bürgern entfachen, bei Soldaten die Bereitschaft, »bis zum letzten Blutstropfen« zu kämpfen, sprich das eigene Leben im Kampf zu opfern.
Diese Bereitschaft wird den Bürgern moderner Staaten von Schulen, Kirchen und Regierungen immer wieder eingehämmert, so daß uns gar nicht bewußt wird, welch radikale Abkehr von älteren Verhaltensweisen darin liegt. Fast jeder Staat hat seine eigenen Parolen, mit denen er die Bürger drängt, sich notfalls für den Staat zu opfern. »Für Volk und Vaterland« (Deutschland), »For King and Country« (England), »Por Dios y España« (Spanien) sind nur einige Beispiele. Ähnliche Gefühle motivierten im 16. Jahrhundert die Krieger der Azteken: »Es gibt nichts Schöneres als den Tod in der Schlacht, nichts ist so schön wie der blumige Tod, der Ihm [dem Aztekengott Huitzilopochtli], der Leben schenkt, so teuer ist: In der Ferne kann ich ihn erblicken, oh, wie mein Herz sich nach ihm sehnt!«
Für Angehörige von Jäger-Sammler-Gruppen und Stämmen sind derartige Gemütsbewegungen unvorstellbar. In allen Berichten meiner neuguineischen Freunde über ihre früheren Stammeskriege fand ich keinen einzigen Hinweis auf Stammespatriotismus, selbstmörderische Angriffe oder überhaupt irgendwelche militärischen Vorgehensweisen, bei denen das Risiko, selbst den Tod zu finden, bewußt in Kauf genommen wurde. Vielmehr wurden Hinterhalte gelegt oder Feinde mitgroßer
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