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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Übermacht angegriffen, um das Risiko, das ei­gene Leben für das Dorf opfern zu müssen, um jeden Preis zu vermeiden. Eine solche Haltung setzt den mi­litärischen Möglichkeiten von Stämmen verglichen mit Staaten natürlich enge Grenzen. Was patriotische und religiöse Fanatiker zu so gefährlichen Gegnern macht, ist bekanntlich ihre Bereitschaft, den Tod eines Teils der eigenen Leute in Kauf zu nehmen, um das Ziel der Aus­löschung des ungläubigen Feindes zu erreichen. Krie­gerischer Fanatismus von der Art, wie er Christen und Mohammedaner zu Eroberungszügen trieb, dürfte auf der Erde unbekannt gewesen sein, bevor innerhalb der letzten 6000 Jahre Häuptlingsreiche und insbesondere Staaten die Bühne der Weltgeschichte betraten.
    Wie kam es, daß aus kleinen, nichtzentralistischen, auf Sippenzugehörigkeit basierenden Gemeinwesen große zentralistische Gesellschaften wurden, in denen zwi­schen den meisten Menschen keine engen Verwandt­schaftsbeziehungen bestehen? Nach Erörterung der einzelnen Phasen des Übergangs von der Jäger-Samm­ler-Gruppe zum Staat wollen wir nun fragen, was zu dieser Entwicklung führte.
    Viele Male in der Geschichte bildeten sich Staaten unabhängig, also ohne das Vorbild von Nachbarstaa­ten vor Augen. Mit Ausnahme Australiens und Norda­merikas kam es auf jedem der Kontinente mindestens einmal, vielleicht sogar etliche Male zur unabhängigen Entstehung eines neuen Staates. Orte vorgeschichtli­cher Staatengründung waren Mesopotamien, Nordchi­na, das Nil- und das Industal, Mesoamerika, die Anden und Westafrika. Nach Kontakten mit Europäern gingen in den letzten drei Jahrhunderten in Madagaskar, Ha­waii, Tahiti und vielen Teilen Afrikas Staaten aus Häupt­lingsreichen hervor. Noch häufiger als Staaten wurden Häuptlingsreiche unabhängig von äußeren Vorbildern gegründet; dies geschah in allen eben erwähnten Regio­nen sowie im Südosten und Nordwesten Nordamerikas, im Amazonasgebiet und in Afrika südlich der Sahara. Diese vielfältigen Ursprünge komplexer Gesellschaften haben für uns den Vorteil, daß sie eine umfangreiche Datengrundlage für den Versuch bieten, die Vorgänge zu verstehen, die zu ihrer Entstehung führten.
    Von den vielen Theorien, die sich mit dem Problem der Staatenbildung befassen, tut sich die einfachste da­durch hervor, daß sie das Problem schlichtweg leugnet. Aristoteles sah im Staat die natürliche Form menschli­chen Zusammenlebens, die keiner weiteren Erklärung bedurfte. Sein Irrtum war verständlich, da ihm nur die griechischen Gesellschaften des 4. Jahrhunderts v. Chr.
    – allesamt staatliche Gemeinwesen – bekannt gewesen sein dürften. Wie wir heute wissen, bestand die Welt des Jahres 1492 n. Chr. jedoch zum großen Teil aus Häupt­lingsreichen, Stammesgesellschaften und Jäger-Samm­ler-Gruppen. Somit bedarf die Entstehung von Staaten in der Tat einer Erklärung.
    Die nächste Theorie ist wohl die bekannteste. Der französische Philosoph Jean Jacques Rousseau speku­lierte, die Gründung von Staaten würde durch einen Gesellschaftsvertrag (»Contrat social«) erfolgen; diesen beschrieb er als den rationalen, von Menschen nach Ab­wägung ihrer eigenen Interessen gefaßten Beschluß, daß es ihnen in einem Staat besser ergehen werde als in einem einfacher organisierten Gemeinwesen, woraufhin letz­teres freiwillig abgeschafft würde. Die Geschichte kennt allerdings keinen einzigen Fall einer Staatsgründung in einer derartigen Atmosphäre von Unvoreingenommen­heit und Weitsicht. Kleinere politische Einheiten geben ungern ihre Souveränität auf, um mit größeren zu ver­schmelzen. Dazu kommt es nur durch Eroberung oder unter dem Druck äußerer Umstände.
    Eine dritte, noch heute von einigen Historikern und Ökonomen vertretene Theorie geht von der unstrittigen Tatsache aus, daß sowohl in Mesopotamien als auch in Nordchina und Mexiko um die Zeit der ersten Staaten­gründungen großangelegte Bewässerungssysteme gebaut wurden. Die Theorie postuliert nun, daß die Schaffung und Erhaltung eines umfangreichen Bewässerungssy­stems beziehungsweise einer komplizierten Wasser­wirtschaft eine zentrale Bürokratie erfordere. Aus der beobachteten groben zeitlichen Korrelation wird eine Kausalkette abgeleitet. Demnach hatten Mesopotamier, Nordchinesen und Mexikaner offenbar die Vorteile vor­ausgesehen, die ihnen ein großangelegtes Bewässerungs­system bringen würde, obwohl es damals im Umkreis von Tausenden von Kilometern (oder

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