Arm und Reich
Übermacht angegriffen, um das Risiko, das eigene Leben für das Dorf opfern zu müssen, um jeden Preis zu vermeiden. Eine solche Haltung setzt den militärischen Möglichkeiten von Stämmen verglichen mit Staaten natürlich enge Grenzen. Was patriotische und religiöse Fanatiker zu so gefährlichen Gegnern macht, ist bekanntlich ihre Bereitschaft, den Tod eines Teils der eigenen Leute in Kauf zu nehmen, um das Ziel der Auslöschung des ungläubigen Feindes zu erreichen. Kriegerischer Fanatismus von der Art, wie er Christen und Mohammedaner zu Eroberungszügen trieb, dürfte auf der Erde unbekannt gewesen sein, bevor innerhalb der letzten 6000 Jahre Häuptlingsreiche und insbesondere Staaten die Bühne der Weltgeschichte betraten.
Wie kam es, daß aus kleinen, nichtzentralistischen, auf Sippenzugehörigkeit basierenden Gemeinwesen große zentralistische Gesellschaften wurden, in denen zwischen den meisten Menschen keine engen Verwandtschaftsbeziehungen bestehen? Nach Erörterung der einzelnen Phasen des Übergangs von der Jäger-Sammler-Gruppe zum Staat wollen wir nun fragen, was zu dieser Entwicklung führte.
Viele Male in der Geschichte bildeten sich Staaten unabhängig, also ohne das Vorbild von Nachbarstaaten vor Augen. Mit Ausnahme Australiens und Nordamerikas kam es auf jedem der Kontinente mindestens einmal, vielleicht sogar etliche Male zur unabhängigen Entstehung eines neuen Staates. Orte vorgeschichtlicher Staatengründung waren Mesopotamien, Nordchina, das Nil- und das Industal, Mesoamerika, die Anden und Westafrika. Nach Kontakten mit Europäern gingen in den letzten drei Jahrhunderten in Madagaskar, Hawaii, Tahiti und vielen Teilen Afrikas Staaten aus Häuptlingsreichen hervor. Noch häufiger als Staaten wurden Häuptlingsreiche unabhängig von äußeren Vorbildern gegründet; dies geschah in allen eben erwähnten Regionen sowie im Südosten und Nordwesten Nordamerikas, im Amazonasgebiet und in Afrika südlich der Sahara. Diese vielfältigen Ursprünge komplexer Gesellschaften haben für uns den Vorteil, daß sie eine umfangreiche Datengrundlage für den Versuch bieten, die Vorgänge zu verstehen, die zu ihrer Entstehung führten.
Von den vielen Theorien, die sich mit dem Problem der Staatenbildung befassen, tut sich die einfachste dadurch hervor, daß sie das Problem schlichtweg leugnet. Aristoteles sah im Staat die natürliche Form menschlichen Zusammenlebens, die keiner weiteren Erklärung bedurfte. Sein Irrtum war verständlich, da ihm nur die griechischen Gesellschaften des 4. Jahrhunderts v. Chr.
– allesamt staatliche Gemeinwesen – bekannt gewesen sein dürften. Wie wir heute wissen, bestand die Welt des Jahres 1492 n. Chr. jedoch zum großen Teil aus Häuptlingsreichen, Stammesgesellschaften und Jäger-Sammler-Gruppen. Somit bedarf die Entstehung von Staaten in der Tat einer Erklärung.
Die nächste Theorie ist wohl die bekannteste. Der französische Philosoph Jean Jacques Rousseau spekulierte, die Gründung von Staaten würde durch einen Gesellschaftsvertrag (»Contrat social«) erfolgen; diesen beschrieb er als den rationalen, von Menschen nach Abwägung ihrer eigenen Interessen gefaßten Beschluß, daß es ihnen in einem Staat besser ergehen werde als in einem einfacher organisierten Gemeinwesen, woraufhin letzteres freiwillig abgeschafft würde. Die Geschichte kennt allerdings keinen einzigen Fall einer Staatsgründung in einer derartigen Atmosphäre von Unvoreingenommenheit und Weitsicht. Kleinere politische Einheiten geben ungern ihre Souveränität auf, um mit größeren zu verschmelzen. Dazu kommt es nur durch Eroberung oder unter dem Druck äußerer Umstände.
Eine dritte, noch heute von einigen Historikern und Ökonomen vertretene Theorie geht von der unstrittigen Tatsache aus, daß sowohl in Mesopotamien als auch in Nordchina und Mexiko um die Zeit der ersten Staatengründungen großangelegte Bewässerungssysteme gebaut wurden. Die Theorie postuliert nun, daß die Schaffung und Erhaltung eines umfangreichen Bewässerungssystems beziehungsweise einer komplizierten Wasserwirtschaft eine zentrale Bürokratie erfordere. Aus der beobachteten groben zeitlichen Korrelation wird eine Kausalkette abgeleitet. Demnach hatten Mesopotamier, Nordchinesen und Mexikaner offenbar die Vorteile vorausgesehen, die ihnen ein großangelegtes Bewässerungssystem bringen würde, obwohl es damals im Umkreis von Tausenden von Kilometern (oder
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