Arm und Reich
führte? Oder waren vielmehr große Bevölkerungen und komplexe Gesellschaften die Ursache, die irgendwie zur Intensivierung der Nahrungserzeugung führten?
Entweder-Oder führt hier nicht weiter. Vielmehr haben wir es mit einer wechselseitigen Stimulation von intensivierter Nahrungserzeugung und gesellschaftlicher Komplexität durch Autokatalyse zu tun. Das bedeutet, daß Bevölkerungswachstum über Mechanismen, auf die ich noch eingehen werde, zu gesellschaftlicher Komplexität führt, während diese ihrerseits eine Intensivierung der Nahrungserzeugung und dadurch auch ein verstärktes Bevölkerungswachstum bewirkt. Komplexe, zentralistische Gesellschaften sind besser als alle anderen in der Lage, öffentliche Bauarbeiten (z. B. Bewässerungssysteme), Fernhandel (z. B. Import von Metallen für die Herstellung landwirtschaftlicher Geräte) und Aktivitäten verschiedener Gruppen von Spezialisten zu organisieren und zu koordinieren (z. B. Versorgung von Viehzüchtern mit Getreide von Ackerbauern und im Gegenzug Ausstattung der Bauern mit Zugtieren für die Feldarbeit). Derartige Fähigkeiten zentralistischer Gesellschaften begünstigten in der gesamten Geschichte die Intensivierung der Landwirtschaft und somit auch das Bevölkerungswachstum.
Zudem trägt die Landwirtschaft auf mindestens drei Arten zu typischen Merkmalen komplexer Gesellschaften bei. Erstens schwankt der Arbeitskräftebedarf in der Landwirtschaft im Rhythmus der Jahreszeiten. Ist die Ernte eingebracht, wird die Arbeitskraft der Bauern frei und kann von einer politischen Zentralgewalt für andere Zwecke eingespannt werden – etwa zur Errichtung öffentlicher Bauwerke als Symbole der Staatsmacht (ägyptische Pyramiden), zum Bau von Einrichtungen, die der Ernährung von noch mehr Menschen dienen (Bewässerungssysteme und Fischteiche der polynesischen Hawaiianer), oder zur Führung von Eroberungskriegen, durch die größere politische Einheiten geschaffen werden.
Zweitens kann die Landwirtschaft so organisiert werden, daß Nahrungsüberschüsse erzielt und Vorräte angelegt werden, was eine Voraussetzung der ökonomischen Differenzierung und der Gliederung der Gesellschaft in soziale Schichten darstellt. Mit den Überschüssen können Angehörige sämtlicher Ebenen einer komplexen Gesellschaft ernährt werden: Häuptlinge, Bürokraten und andere Mitglieder der Herrschaftsschicht; Schreiber, Handwerker und weitere Spezialisten, die selbst keine Nahrung produzieren; und schließlich die Bauern selbst in Zeiten, in denen sie Frondienst leisten müssen.
Schließlich gestattet die Landwirtschaft den Menschen den Übergang zur Seßhaftigkeit beziehungsweise zwingt sie sogar dazu – dies ist eine Voraussetzung für die Anhäufung von Besitztümern, die Entwicklung komplizierter Techniken und Handwerkskünste sowie die Errichtung öffentlicher Bauten. Die Bedeutung der Seßhaftigkeit für komplexe Gesellschaften erklärt auch, warum Missionare und Behörden nach Herstellung von Erstkontakten mit nomadischen Stämmen oder Gruppen in Neuguinea oder im Amazonasgebiet am Anfang stets zwei Ziele verfolgen: Eins ist natürlich die »Befriedung« der Nomaden, das heißt, man versucht sie davon abzubringen, Missionare, Verwaltungsbeamte oder sich gegenseitig umzubringen. An zweiter Stelle kommt sogleich die Ansiedlung in Dörfern, damit man sie besser finden, ihnen medizinische Betreuung und Schulunterricht angedeihen lassen und sie missionieren und unter Kontrolle bekommen kann.
So macht die Landwirtschaft, indem sie zum Bevölkerungswachstum beiträgt, die Besonderheit komplexer Gesellschaften in vielerlei Hinsicht erst möglich. Das beweist indes nicht, daß komplexe Gesellschaften eine zwangsläufige Folge von Landwirtschaft und Bevölkerungswachstum sind. Wie erklärt sich nun der empirische Sachverhalt, daß die Organisationsformen von Jäger-Sammler-Gruppen und Stammesgesellschaften für Gruppen von mehreren hunderttausend Menschen nicht taugen und daß alle existierenden großen Gesellschaften eine hochdifferenzierte, zentralistische Organisation aufweisen? Es können mindestens vier offensichtliche Gründe angeführt werden.
Ein Grund ist die Problematik von Konflikten zwischen nicht miteinander verwandten Fremden. Sie wächst ins Astronomische, wenn die Zahl der Mitglieder einer Gesellschaft nur genügend stark zunimmt. Während es zwischen 20 Personen maximal 190 Zweierbeziehungen
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