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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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führte? Oder waren viel­mehr große Bevölkerungen und komplexe Gesellschaf­ten die Ursache, die irgendwie zur Intensivierung der Nahrungserzeugung führten?
    Entweder-Oder führt hier nicht weiter. Vielmehr ha­ben wir es mit einer wechselseitigen Stimulation von intensivierter Nahrungserzeugung und gesellschaftli­cher Komplexität durch Autokatalyse zu tun. Das be­deutet, daß Bevölkerungswachstum über Mechanismen, auf die ich noch eingehen werde, zu gesellschaftlicher Komplexität führt, während diese ihrerseits eine Inten­sivierung der Nahrungserzeugung und dadurch auch ein verstärktes Bevölkerungswachstum bewirkt. Kom­plexe, zentralistische Gesellschaften sind besser als alle anderen in der Lage, öffentliche Bauarbeiten (z. B. Be­wässerungssysteme), Fernhandel (z. B. Import von Me­tallen für die Herstellung landwirtschaftlicher Geräte) und Aktivitäten verschiedener Gruppen von Speziali­sten zu organisieren und zu koordinieren (z. B. Versor­gung von Viehzüchtern mit Getreide von Ackerbauern und im Gegenzug Ausstattung der Bauern mit Zugtie­ren für die Feldarbeit). Derartige Fähigkeiten zentra­listischer Gesellschaften begünstigten in der gesamten Geschichte die Intensivierung der Landwirtschaft und somit auch das Bevölkerungswachstum.
    Zudem trägt die Landwirtschaft auf mindestens drei Arten zu typischen Merkmalen komplexer Gesellschaf­ten bei. Erstens schwankt der Arbeitskräftebedarf in der Landwirtschaft im Rhythmus der Jahreszeiten. Ist die Ernte eingebracht, wird die Arbeitskraft der Bauern frei und kann von einer politischen Zentralgewalt für andere Zwecke eingespannt werden – etwa zur Errichtung öf­fentlicher Bauwerke als Symbole der Staatsmacht (ägyp­tische Pyramiden), zum Bau von Einrichtungen, die der Ernährung von noch mehr Menschen dienen (Bewässe­rungssysteme und Fischteiche der polynesischen Hawai­ianer), oder zur Führung von Eroberungskriegen, durch die größere politische Einheiten geschaffen werden.
    Zweitens kann die Landwirtschaft so organisiert wer­den, daß Nahrungsüberschüsse erzielt und Vorräte ange­legt werden, was eine Voraussetzung der ökonomischen Differenzierung und der Gliederung der Gesellschaft in soziale Schichten darstellt. Mit den Überschüssen kön­nen Angehörige sämtlicher Ebenen einer komplexen Ge­sellschaft ernährt werden: Häuptlinge, Bürokraten und andere Mitglieder der Herrschaftsschicht; Schreiber, Handwerker und weitere Spezialisten, die selbst keine Nahrung produzieren; und schließlich die Bauern selbst in Zeiten, in denen sie Frondienst leisten müssen.
    Schließlich gestattet die Landwirtschaft den Men­schen den Übergang zur Seßhaftigkeit beziehungswei­se zwingt sie sogar dazu – dies ist eine Voraussetzung für die Anhäufung von Besitztümern, die Entwicklung komplizierter Techniken und Handwerkskünste sowie die Errichtung öffentlicher Bauten. Die Bedeutung der Seßhaftigkeit für komplexe Gesellschaften erklärt auch, warum Missionare und Behörden nach Herstellung von Erstkontakten mit nomadischen Stämmen oder Grup­pen in Neuguinea oder im Amazonasgebiet am Anfang stets zwei Ziele verfolgen: Eins ist natürlich die »Befrie­dung« der Nomaden, das heißt, man versucht sie davon abzubringen, Missionare, Verwaltungsbeamte oder sich gegenseitig umzubringen. An zweiter Stelle kommt so­gleich die Ansiedlung in Dörfern, damit man sie besser finden, ihnen medizinische Betreuung und Schulunter­richt angedeihen lassen und sie missionieren und unter Kontrolle bekommen kann.
    So macht die Landwirtschaft, indem sie zum Bevölke­rungswachstum beiträgt, die Besonderheit komplexer Gesellschaften in vielerlei Hinsicht erst möglich. Das beweist indes nicht, daß komplexe Gesellschaften eine zwangsläufige Folge von Landwirtschaft und Bevölke­rungswachstum sind. Wie erklärt sich nun der empi­rische Sachverhalt, daß die Organisationsformen von Jäger-Sammler-Gruppen und Stammesgesellschaften für Gruppen von mehreren hunderttausend Menschen nicht taugen und daß alle existierenden großen Gesell­schaften eine hochdifferenzierte, zentralistische Orga­nisation aufweisen? Es können mindestens vier offen­sichtliche Gründe angeführt werden.
    Ein Grund ist die Problematik von Konflikten zwi­schen nicht miteinander verwandten Fremden. Sie wächst ins Astronomische, wenn die Zahl der Mitglieder einer Gesellschaft nur genügend stark zunimmt. Während es zwischen 20 Personen maximal 190 Zweierbeziehungen

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