Arm und Reich
Jäger-Sammler-Gruppen. Jede ein paar Dutzend Mitglieder starke Schar von Jägern und Sammlern durchstreift ein größeres Gebiet, innerhalb dessen Grenzen sie die meisten zum Leben notwendigen Dinge findet. Die übrigen benötigten Güter werden durch Tauschhandel mit benachbarten Gruppen beschafft, sofern man nicht gerade im Krieg mit ihnen liegt. Mit zunehmender Bevölkerungsdichte würde das Gebiet der einzelnen, aus einigen Dutzend Personen bestehenden Gruppe schrumpfen, so daß immer mehr Güter von außen beschafft werden müßten. Man kann eben nicht einfach beispielsweise Hollands 40 000 Quadratkilometer und 16 000 000 Einwohner in 80 0000 einzelne Reviere aufteilen, von denen jedes eine Größe von rund fünf Hektar hätte und einem autonomen Verband von 20 Menschen als Heimat zur Verfügung stünde, die innerhalb dieses Gebiets autark leben und nur gelegentlich einen Waffenstillstand dazu nutzen würden, mit den Nachbarn Handelsgüter und Bräute zu tauschen. Das Beispiel verdeutlicht, daß in dichtbesiedelten Regionen kein Weg an großen, komplex organisierten Gesellschaften vorbeiführt.
Konfliktlösung, Entscheidungsprozesse, Gütertausch, Bevölkerungsdichte – all das sind Faktoren, die für eine zentralistische Struktur großer Gesellschaften sprechen. Die Zentralisierung von Macht eröffnet jedoch unweigerlich denen, die sie innehaben, die Einblick in Informationen besitzen, Entscheidungen treffen und Güter umverteilen, die Möglichkeit, ihre Stellung auszunutzen, um sich und die Ihren zu bereichern – was in unseren Ohren nach einer Selbstverständlichkeit klingt. In der Entstehungsphase der frühen Gesellschaften etablierten sich jene, denen die Macht zufiel, erst nach und nach als Herrschaftsschicht. Ihr Ursprung mag in einem dörflichen Clan gelegen haben, der im Laufe der Entwicklung »gleicher« wurde als die anderen.
Aus diesen Gründen können bevölkerungsreiche Gesellschaften nicht mit einer Organisationsstruktur von Jäger-Sammler-Gruppen funktionieren, sondern haben sich zu komplexen Kleptokratien entwickelt. Im Raum steht aber immer noch die Frage, wie es dazu kommt, daß kleine, schwach differenzierte Gesellschaften zu großen, komplexen wurden oder sich zu solchen Gebilden zusammenschlossen. Verschmelzungen, zentralistische Konfliktregelung und Entscheidungsprozesse, Umverteilungsökonomie, kleptokratische Religion – das alles fällt nicht durch einen Rousseauschen Gesellschaftsvertrag vom Himmel. Was gibt also den Anstoß zu dieser Entwicklung?
Ich wies am Anfang dieses Kapitels darauf hin, daß Gesellschaften, die der gleichen Kategorie zugeordnet werden, nicht alle identisch sind, da einzelne Individuen und Gruppen von Menschen unendlich verschieden sind. So sind die Anführer einiger Jäger-Sammler-Gruppen und Stämme charismatischer, mächtiger und geschickter im Durchsetzen von Entscheidungen als die »Bigmen« anderer. Unter den großen Stämmen haben jene mit mächtigeren Anführern und somit stärkerer Zentralisierung in der Regel einen Vorteil gegenüber jenen mit schwächerer Zentralisierung. Stämme mit so mangelhaften Konfliktlösungsfähigkeiten wie die Fayu zerfallen oft in einzelne Gruppen, während sich schlecht regierte Häuptlingsreiche tendenziell in Stämme oder kleinere Häuptlingsreiche aufspalten. Gesellschaften mit wirksamer Konfliktregelung, soliden Entscheidungsprozessen und harmonischer Umverteilungsökonomie können dagegen bessere Techniken entwickeln, ihre militärische Macht konzentrieren, größere und fruchtbarere Gebiete in ihren Besitz bringen und autonome kleinere Gesellschaften eine nach der anderen unterwerfen.
Die Konkurrenz zwischen Gesellschaften gleicher Komplexitätsstufe führt somit tendenziell zur Entstehung von Gesellschaften des jeweils nächsthöheren Komplexitätsgrades, wenn die Umstände dies zulassen. Stämme unterwerfen andere Stämme oder schließen sich mit ihnen zu Häuptlingsreichen zusammen, die ihrerseits andere Häuptlingsreiche unterwerfen und die Größe von Staaten erreichen, die dann wiederum andere Staaten unterwerfen oder sich mit ihnen zu Reichen vereinen. Allgemein haben größere Einheiten einen potentiellen Vorteil gegenüber kleineren, wenn – und dieses Wenn ist nicht zu vernachlässigen – die größeren Einheiten die aus ihrer Größe resultierenden Probleme zu meistern wissen, etwa die ständige Gefahr der Machtergreifung durch
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