Arm und Reich
einzelne, die sich dazu berufen fühlen, die Unzufriedenheit der Untertanen mit den kleptokratischen Verhältnissen und die Probleme der wirtschaftlichen Integration.
Der Zusammenschluß kleinerer zu größeren Einheiten wurde von Historikern und Archäologen vielfältig dokumentiert. Im Gegensatz zu Rousseaus Thesen ereigneten sich derartige Vereinigungen jedoch niemals so, daß sich kleinere Gesellschaften ohne äußere Bedrohung freiwillig und nur im Interesse der Wohlfahrt und Zufriedenheit ihrer Bürger dazu entschlossen. In der Realität sind die Führer kleiner ebenso wie großer Gesellschaften viel zu sehr auf ihre Unabhängigkeit und die eigenen Privilegien bedacht. Vereinigungen geschehen vielmehr auf zwei Arten: entweder unter dem Druck lauernder äußerer Gefahren oder durch Eroberung. Für beide Varianten lassen sich zahlreiche Fälle nennen.
Ein Beispiel für Vereinigungen angesichts äußerer Gefahr ist die Bildung der Cherokee-Konföderation im Südosten der USA. Die Cherokee lebten ursprünglich in 30 oder 40 unabhängigen Häuptlingsreichen, von denen jedes aus einem Dorf mit ca. 400 Bewohnern bestand. Die wachsende Besiedlung durch Weiße führte zu Konflikten zwischen Indianern und Eindringlingen. Wenn einzelne Cherokee weiße Siedler und Händler ausraubten oder überfielen, konnten die Weißen nicht zwischen den verschiedenen Cherokee-Häuptlingsreichen unterscheiden und übten unterschiedslose Vergeltung in Form von Militäreinsätzen oder Handelssanktionen. In dieser Situation sahen sich die Cherokee-Häuptlingsreiche im Laufe des 18. Jahrhunderts genötigt, eine Konföderation zu bilden. Es begann damit, daß sich die größeren Häuptlingsreiche im Jahr 1730 auf einen gemeinsamen Führer verständigten, einen Häuptling namens Moytoy, dem 1741 sein Sohn im Amt folgte. Die erste Aufgabe des gemeinsamen Führers bestand in der Bestrafung einzelner Cherokee, die Weiße angriffen, sowie in der Pflege der Beziehungen mit der Regierung der Weißen. Ungefähr ab 1758 wurde eine jährliche Ratsversammlung nach dem Vorbild eines Dorfrats abgehalten, auf der gemeinsame Beschlüsse gefaßt wurden und die immer am gleichen Ort, einem Dorf namens Echota, stattfand, das damit de facto zur »Hauptstadt« wurde. Nach ihrer Alphabetisierung (siehe Kapitel 11) gaben sich die Cherokee eine schriftliche Verfassung.
Die Cherokee-Konföderation entstand somit nicht durch Eroberung, sondern durch Vereinigung zuvor unabhängiger kleinerer Einheiten, die sich nur angesichts der Bedrohung durch mächtige äußere Kräfte zusammenschlossen. In ganz ähnlicher Weise sahen sich auch die weißen amerikanischen Kolonien zum Zusammenschluß gezwungen, als ihnen die britische Monarchie als mächtige Bedrohung gegenübertrat. Am Anfang war jede der amerikanischen Kolonien nicht minder auf ihre Autonomie bedacht als die Häuptlingsreiche der Cherokee, weshalb der erste Versuch einer Vereinigung im Jahr 1781 zu nichts führte, da den einzelnen Exkolonien zuviel Eigenständigkeit eingeräumt wurde. Nur im Angesicht weiterer Bedrohungen, insbesondere eines bewaffneten Bauernaufstands in Massachusetts (Shays’ Rebellion) im Jahr 1786 und der hohen Belastung durch die Kriegsschulden, gaben die Exkolonien ihren Widerstand gegen Autonomieeinbußen auf und nahmen 1787 die heutige Verfassung der USA an, die eine starke Bundesgewalt vorsieht. Ähnliche Schwierigkeiten gab es im Vorfeld der Beendigung der deutschen Kleinstaaterei im 19. Jahrhundert. Drei Versuche (Nationalversammlung in Frankfurt 1848, Wiederherstellung des Deutschen Bundes 1850, Norddeutscher Bund 1866) scheiterten, bevor eine äußere Bedrohung in Form der französischen Kriegserklärung von 1870 die deutschen Fürsten schließlich doch veranlaßte, einen großen Teil ihrer Macht 1871 an eine kaiserliche Zentralgewalt abzutreten.
Die andere Entstehungsform komplexer Gesellschaften ist die gewaltsame Angliederung durch Eroberung. Ein gut erforschtes Beispiel hierfür ist die Entstehung des Zulu-Staates im südöstlichen Afrika. Zum Zeitpunkt des Eintreffens der ersten weißen Siedler waren die Zulu in Dutzende kleiner Häuptlingsreiche gespalten. Ende des 18. Jahrhunderts wuchs der Bevölkerungsdruck in den Zulu-Gebieten, und es kam immer häufiger zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Häuptlingsreichen. Ein Häuptling namens Dingiswayo, der um 1807 die Macht im
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