Arm und Reich
man die Namen bestimmter Pflanzen in südnigerianischen Sprachen, die zur Niger-Kongo-Familie gehören, ergibt sich eine Einteilung in drei Gruppen. Die erste umfaßt Fälle, bei denen die Bezeichnung für eine bestimmte Anbaupflanze in allen südnigerianischen Sprachen sehr ähnlich ist. Dies gilt beispielsweise für die westafrikanische Jamswurzel, die Ölpalme und die Kolanuß – Gewächse, von denen man schon aufgrund botanischer und anderer Indizien annahm, daß sie in Westafrika heimisch waren und dort erstmals domestiziert wurden. Da es sich bei ihnen um die ältesten westafrikanischen Kulturpflanzen handelt, finden wir die gleichen Bezeichnungen in allen modernen südnigerianischen Sprachen wieder.
Die nächste Gruppe bilden Anbaupflanzen, deren Namen nur innerhalb einer kleinen Untergruppe der südnigerianischen Sprachen ähnlich sind. Hierbei haben wir es mit Pflanzen vermutlich indonesischer Herkunft zu tun, wie etwa Bananen und asiatischen Jamswurzeln. Offenbar trafen sie erst im südnigerianischen Raum ein, als der Prozeß der Differenzierung von Sprachen in Untergruppen schon begonnen hatte, so daß in jeder Untergruppe andere Namen für die neuen Pflanzen gefunden wurden und entsprechend auch in den modernen Sprachen anzutreffen sind. Die letzte Gruppe bilden Namen ohne sprachgruppenbezogene Ähnlichkeit. Es handelt sich dabei um Kulturgewächse aus der Neuen Welt, wie Mais und Erdnüsse, von denen wir wissen, daß sie nach Beginn der transatlantischen Schiffahrt (1492 n. Chr.) in Afrika eingeführt wurden und sich seitdem entlang der Handelswege ausbreiteten, oft unter Beibehaltung ihrer portugiesischen oder anderer fremdländischer Namen.
Selbst wenn uns keinerlei botanische oder archäologische Erkenntnisse vorlägen, könnten wir allein aus den linguistischen Indizien den Schluß ziehen, daß zuerst heimische westafrikanische Pflanzen domestiziert wurden; als nächste kamen indonesische und zuletzt die von Europäern eingeführten Gewächse. Der Historiker Christopher Ehret von der University of California in Los Angeles hat mit Hilfe dieses sprachwissenschaftlichen Erklärungsansatzes versucht, die Reihenfolge zu ermitteln, in der die Sprecher der verschiedenen afrikanischen Sprachfamilien mit der Nutzung von Haustieren und domestizierten Pflanzen begannen. Mit einem als Glottochronologie bezeichneten Verfahren, das auf Berechnungen der Veränderungsgeschwindigkeit von Wörtern über längere Zeiträume basiert, ist die vergleichende Sprachwissenschaft sogar in der Lage, die ungefähren Zeitpunkte von Domestikationen beziehungsweise der Ankunft von Kulturpflanzen zu nennen.
Wenn wir die direkten archäologischen und die eher indirekten linguistischen Erkenntnisse zusammen betrachten, können wir folgern, daß die Sprachen jener Völker, die vor Jahrtausenden in der Sahara Sorghum und Hirse domestizierten, Vorgängersprachen der heutigen nilosaharischen Sprachen waren. Entsprechend handelte es sich bei den Sprachen jener bäuerlichen Bewohner Westafrikas, die als erste für tropischfeuchte Klimaverhältnisse geeignete Anbaupflanzen domestizierten, um Vorgängersprachen der modernen Niger-Kongo-Sprachen. Und schließlich waren es möglicherweise Sprecher afroasiatischer Vorgängersprachen, die sich um die Domestikation heimischer Anbaupflanzen Äthiopiens verdient machten; auf jeden Fall aber waren sie es, die in Nordafrika Kulturpflanzen aus Vorderasien einführten.
Die Pflanzenbezeichnungen in modernen afrikanischen Sprachen gewähren uns so einen Blick auf die Existenz dreier afrikanischer Sprachen vor Tausenden von Jahren: die Vorgängersprachen der heutigen nilosaharischen, Niger-Kongo- und afroasiatischen Sprachen. Aus anderen linguistischen Indizien konnten wir zudem auf die Existenz der Vorgängersprache des Khoisan schließen, nicht aber auf die Namen von Kulturpflanzen (da die Ahnen der heutigen Khoisan keine Pflanzen domestizierten). Nun ist Afrika mit seinen 1500 Sprachen der Gegenwart gewiß groß genug, um die Annahme zu rechtfertigen, daß es dort vor Tausenden von Jahren mehr als nur vier Vorgängersprachen gab. Sie alle müssen jedoch verschwunden sein – entweder weil ihre Sprecher zwar überlebten, aber ihre ursprüngliche Sprache verloren, wie die Pygmäen, oder weil die Sprecher selbst verschwanden.
Das Überleben der vier heutigen afrikanischen Sprachfamilien (die erst in jüngerer Vergangenheit
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