Arm und Reich
kulturellen Konservatismus oder Tabus daran gehindert wurden. Einer wichtigen Ergänzung bedarf diese Aussage jedoch: All dies gilt nur bei langfristiger und großräumiger Betrachtung. Jeder Kenner der Geschichte menschlicher Kulturen kann nämlich zahllose Beispiele anführen, bei denen Anbaupflanzen, Haustiere und andere Neuerungen abgelehnt wurden, obwohl sie durchaus nützlich gewesen wären.
Natürlich hege ich nicht die naive Vorstellung, daß jede Gesellschaft sofort jede Neuerung übernimmt, die für sie von Vorteil wäre. Tatsache ist vielmehr, daß bei Betrachtung ganzer Kontinente und anderer geographischer Großräume mit Hunderten konkurrierender Gesellschaften einige dieser Gesellschaften eine aufgeschlossenere Haltung gegenüber Neuerungen einnehmen und andere eine ablehnendere. Die aufgeschlosseneren Gesellschaften, die sich für die Übernahme neuer Anbaupflanzen, Haustiere oder Techniken entscheiden, sind wahrscheinlich diejenigen, die sich besser ernähren, rascher vermehren und am Ende innovationsscheue Gesellschaften verdrängen oder gar vernichten. Wir haben es hier mit einem wichtigen Phänomen zu tun, dessen Erscheinungsformen weit über die Einführung neuer Kulturpflanzen hinausgehen und auf das wir in Kapitel 12 zurückkommen werden.
Überbetont werden sollten auch nicht die Beschränkungen, die sich aus dem vorhandenen Angebot an Wildpflanzen und -tieren für die Entstehung der Landwirtschaft ergeben. Ich sage ausdrücklich nicht, daß die Landwirtschaft in jenen Regionen, in denen sie bis in die jüngere Vergangenheit nicht eigenständig hervorgebracht wurde, nie von selbst entstanden wäre. Wenn heute davon gesprochen wird, daß die australischen Aborigines bei Anbruch der Neuzeit noch in der Steinzeit lebten, steht dahinter oft die Vorstellung, daß dieser Zustand ewig fortgedauert hätte.
Um den darin liegenden Trugschluß zu begreifen, stellen wir uns einmal vor, ein Besucher aus dem All würde der Erde im Jahr 3000 v. Chr. einen Besuch abstatten. Der Außerirdische fände im Osten der USA keinerlei Spuren der Landwirtschaft vor, weil diese in dem Gebiet erst um 2500 v. Chr. auf den Plan trat. Zöge der Besucher im Jahr 3000 v. Chr. den Schluß, negative Merkmale der Pflanzen- und Tierwelt im Osten der USA würden die Entstehung der Landwirtschaft dort für alle Zeit unmöglich machen, hätten ihn die Ereignisse im Jahrtausend darauf Lügen gestraft. Selbst ein Besucher Vorderasiens hätte zu dem Fehlurteil verleitet werden können, diese Region sei für die Landwirtschaft verloren, wenn seine Visite im Jahr 9500 v. Chr. und nicht erst 8500 v. Chr. stattgefunden hätte.
Meine These lautet demnach nicht, daß es in Kalifornien, Australien, Westeuropa und all den anderen Gebieten, in denen die Landwirtschaft nicht unabhängig entstand, keine domestizierbaren Arten gab und daß dort für immer nur Jäger und Sammler gelebt hätten, wenn keine fremden Völker oder an fremden Orten domestizierten Pflanzen und Tiere eingetroffen wären. Vielmehr stelle ich fest, daß zwischen den Regionen große Unterschiede in der Zahl der vorhandenen domestizierbaren Arten bestanden, daß sich die Regionen entsprechend auch im Zeitpunkt der Entstehung der Landwirtschaft unterschieden und daß in einigen fruchtbaren Regionen bis in die Neuzeit hinein keine Nahrungsproduktion unabhängig entstand.
Australien, der vermeintlich »rückständigste« Kontinent, liefert hierfür ein gutes Beispiel. Im mit Wasser reich gesegneten Südosten, dem für die Landwirtschaft am besten geeigneten Teil Australiens, schlugen örtliche Aborigines-Gesellschaften offenbar in den letzten Jahrtausenden einen Weg ein, der irgendwann einmal zur Nahrungsproduktion geführt hätte. So hatten sie bereits Winterdörfer errichtet und damit begonnen, ihre Umwelt systematisch zu bewirtschaften, indem sie Fischfallen, Netze und sogar lange Kanäle bauten. Hätten die Europäer Australien nicht 1788 kolonisiert und dieser Entwicklung ein Ende gesetzt, wären australische Aborigines möglicherweise binnen weniger Jahrtausende zu Nahrungsproduzenten geworden, mit Fischteichen und Feldern, auf denen domestizierte australische Jamswurzeln und kleinsamige Gräser wuchsen.
Vor diesem Hintergrund können wir nun auch die in der Überschrift dieses Kapitels gestellte Frage beantworten, ob nämlich der Grund dafür, daß die nordamerikanischen Indianer keine Äpfel
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