Arm und Reich
domestizierten, bei ihnen oder bei den Äpfeln zu suchen sei.
Es soll nicht unterstellt werden, daß Äpfel in Nordamerika nie hätten domestiziert werden können. Bedenken Sie, daß Apfelbäume historisch zu den am schwersten domestizierbaren Obstbäumen zählten und wegen der komplizierten Veredelungsverfahren, die dazu erforderlich waren, auch in Eurasien erst sehr spät domestiziert wurden. Es gibt keine Anzeichen, die dafür sprechen, daß mit der Kultivierung von Äpfeln auf breiter Front selbst in Vorderasien und Europa früher begonnen wurde als zur Zeit des klassischen Hellenismus, sprich 8000 Jahre nach dem Aufkommen der Landwirtschaft in Eurasien. Hätten die amerikanischen Indianer im gleichen Tempo Veredelungstechniken erfunden beziehungsweise übernommen, wären auch sie am Ende zur Domestikation von Äpfeln gelangt – etwa im Jahr 5500 n. Chr., also rund 8000 Jahre nach dem Beginn der Pflanzendomestikation in Nordamerika um 2500 v. Chr.
Die »Schuld« daran, daß die nordamerikanischen Indianer vor dem Eintreffen der Europäer keine nordamerikanischen Äpfel domestizierten, ist also weder den Indianern noch den Äpfeln anzulasten. Was die biologischen Voraussetzungen der Apfeldomestikation betrifft, so unterschieden sich weder indianische Bauern noch nordamerikanische Äpfel von ihren eurasischen Pendants. Einige der Supermarktäpfel, die Lesern dieses Kapitels vielleicht besonders schmackhaft erscheinen, wurden sogar erst vor relativ kurzer Zeit durch Kreuzung eurasischer und wilder nordamerikanischer Apfelsorten gezüchtet. Der Grund für das Ausbleiben der Apfeldomestikation in Nordamerika lag vielmehr in der gesamten Pflanzen- und Tierwelt, die von den dortigen Bewohnern vorgefunden wurde. Ihr vergleichsweise geringes Domestikationspotential erklärt den späten Start der Landwirtschaft in Nordamerika.
KAPITEL 8
Zebras, unglückliche Ehenund das Anna-Karenina-Prinzip
Warum die meisten großen Säugetierarten niemals domestiziert wurden
A lle domestizierbaren Tiere ähneln einander; jedes undomestizierbare Tier ist aber auf seine eigene Art undomestizierbar.
Falls Sie meinen, Sie hätten etwas Ähnliches schon einmal gelesen, könnten Sie sogar recht haben. Mit ein paar kleinen Änderungen wird nämlich der berühmte erste Satz von Tolstois Roman Anna Karenina daraus: »Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich.« Mit diesem Satz wollte Tolstoi sagen, daß eine Ehe, um glücklich zu sein, viele Voraussetzungen erfüllen muß: Die Partner müssen sich sexuell anziehend finden, sie müssen über Geldfragen und Kindererziehung einer Meinung sein, Religion und Schwiegereltern dürfen nicht zwischen ihnen stehen und noch einiges mehr. Mangelt es an nur einer dieser Grundvoraussetzungen, ist eine Ehe womöglich zum Scheitern verurteilt, selbst wenn alle anderen Zutaten zum Familienglück vorhanden sind.
Dieses Prinzip läßt sich auch auf viele andere Lebensbereiche anwenden. Wir neigen dazu, Erfolge auf einen einzigen Faktor zurückzuführen. In Wirklichkeit hängt Erfolg bei den meisten wichtigen Dingen aber davon ab, daß viele mögliche Mißerfolgsgründe vermieden werden. Das Anna-Karenina-Prinzip erklärt ein Merkmal der Domestikation von Tieren, das für die Menschheitsgeschichte schwerwiegende Folgen hatte. Ich meine die Tatsache, daß so viele auf den ersten Blick geeignete Säugetierarten, wie beispielsweise Zebras und Nabelschweine, nie domestiziert wurden und daß die erfolgreichen Domestikationen fast alle in Eurasien stattfanden. Nachdem wir in den beiden letzten Kapiteln erörtert haben, warum so viele Arten von Wildpflanzen, die auf den ersten Blick geeignet waren, nie domestiziert wurden, wollen wir nun die gleiche Frage für Kandidaten aus dem Tierreich stellen. Statt um Äpfel oder Indianer geht es nun um die Frage: Zebras oder Afrikaner?
In Kapitel 3 hatten wir uns die vielfältige Bedeutung von Haustieren für die Gesellschaften, die sich ihrer erfreuten, vergegenwärtigt. So waren sie Lieferanten von Fleisch, Milchprodukten, Düngemitteln, Leder und Wolle, dienten als Transportmittel, als Reittiere zur Kriegführung und als Zugtiere, die vor Pflüge gespannt wurden, sowie als Überträger von Krankheitserregern, einer tödlichen Waffe gegen andere Völker, die ihre Bekanntschaft noch nicht gemacht hatten. Daneben spielten natürlich auch kleine
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