Armageddon 06 - Der nackte Gott
das hier niemals enden würde, war eine Schwäche, der sie sich unter keinen Umständen hingeben durfte. Irgendwo auf der anderen Seite, jenseits der Grenzen dieses Universums, gab es eine immer noch intakte Konföderation, deren politische Führung jede nur denkbare Anstrengung unternahm, um Norfolk aufzuspüren und eine Antwort auf die Besessenen zu finden.
Wie diese Antwort aussehen mochte, darüber wagte sie nicht nachzudenken. Es half überhaupt nichts, die Seelen der Besessenen einfach in die schwarze Leere zurückzukatapultieren, aus der sie gekommen waren. Man mußte einen Ort für sie finden, wo sie nicht mehr so unendlich litten. Natürlich waren die Besessenen der Meinung, sie hätten ihn bereits gefunden, indem sie hierher gekommen waren. Diese Dummköpfe. Diese armen, verblendeten, tragischen Narren.
Ihre Vorstellung versagte auch, wenn es darum ging sich auszumalen, wie das Leben auf Norfolk und den anderen von Besessenen eroberten und entführten Welten hinterher sein würde. Sie hatte stets die Religiosität der Kultur respektiert, mit der sie aufgewachsen war, genau wie die Häuserbauer ihren christlichen Gott verehrten. Keine der ihr bekannten Religionen lieferte auch nur den geringsten Hinweis darauf, wie die Menschen leben sollten, jetzt, nachdem sie ohne jeden Zweifel wußten, daß sie eine unsterbliche Seele besaßen. Wie konnte irgend jemand seine eigene physische Existenz überhaupt noch ernst nehmen mit diesem Wissen? Warum irgend etwas tun, warum versuchen, im Leben etwas zu erreichen, wenn danach so viel mehr auf einen wartete? Carmitha hatte stets einen Widerwillen gegen die künstlichen Restriktionen dieser Welt verspürt, obwohl sie wußte, daß es für sie niemals eine Alternative geben würde. Ein Schmetterling ohne Flügel, hatte ihre Großmutter immer zu ihr gesagt. Und jetzt hatte sich mit einem Mal die Tür zu einer wunderbaren, unendlichen Freiheit weit, weit geöffnet.
Und was hatte sie getan, als sie diese Freiheit erblickt hatte? Sich mit einer Macht und einer Entschlossenheit an ihr erbärmliches Leben geklammert, wie sie nur wenige andere auf dieser Welt aufbrachten. Vielleicht mußte es auch so sein. Eine Zukunft in ewiger Schizophrenie, während der innere Kampf zwischen Yin und Yang zu einem Atomkrieg mutierte.
Es war viel leichter, nicht darüber nachzudenken – doch auch das erzeugte Unbehagen in ihr. Es bedeutete nämlich, daß sie ihr Schicksal keineswegs in der Hand hatte. Und sich statt dessen mit dem zufrieden gab, was auch immer die Konföderation großzügig an Hilfe anbot. Abhängig von der Wohlfahrt. Was ihrer Natur diametral zuwider war. Die Zeiten waren wirklich nicht leicht.
Sie beendete das Einkürzen des Strauchs und zog zwei widerspenstige Triebe zwischen den dickeren unteren Zweigen hervor, um sie achtlos fallen zu lassen. Die Baumschere bewegte sich weiter und kappte einige der älteren Zweige. Bis auf die fünf Hauptäste wurde ein Rosenstock alle sechs Jahre idealerweise vollständig zurückgeschnitten, so daß sich neues Grün bilden konnte. Nach der verschrumpelten Rinde zu urteilen und den bläulichen Algen, die sich in den Haarrissen festgesetzt hatten, war dieser Zweig hier alt genug. Geschickt band sie die stehengebliebenen neuen Triebe mit Hilfe von speziellem Bindedraht am Spalier an. Ihre Hände bewegten sich beinahe automatisch, während sie den Draht verdrillte. Sie mußte nicht einmal hinsehen, um alles richtig zu machen. Jedes Kind auf Norfolk beherrschte diese Art von Arbeit im Schlaf. Die anderen in ihrer Gruppe arbeiteten mit der gleichen Effizienz. Noch immer herrschten Instinkt und Tradition, zumindest in dieser Hinsicht.
Carmitha kletterte auf ihrer Leiter vier Stufen tiefer und machte sich an die nächste Reihe von Zweigen und Trieben. Ein aufgeregtes fremdes Etwas drängte sich in einen Winkel ihres Bewußtseins. Sie hielt sich an einer stabilen Spalierstrebe fest und lehnte sich hinaus, um die Reihe von Sträuchern entlang nach der Ursache zu suchen. Lucy rannte durch das Gras. Sie wich den Haufen abgeschnittener Zweige aus und wedelte hektisch mit den Armen. Außer Atem blieb sie am Fuß von Carmithas Leiter stehen.
»Kannst du bitte ganz schnell kommen?« japste sie. »Johan ist zusammengebrochen. Gott allein weiß, was mit ihm los ist.«
»Zusammengebrochen? Wie?«
»Ich weiß nicht. Er war in der Zimmermannswerkstatt und wollte etwas holen, und die Jungs erzählen, er wäre einfach vornübergekippt. Sie wollten ihm
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