Armageddon 06 - Der nackte Gott
Holz und Arbeitsgeräten freigeräumt und Johan darauf gelegt. Er war ganz in eine schwere Decke eingewickelt. Susannah hielt ein Glas kaltes Wasser an seine Lippen und nötigte ihn zum Trinken, während Luca am Ende der Werkbank stand und mit sorgenvoller Miene auf das Geschehen blickte.
Johans rundliches Teenagergesicht war verzerrt, und die wenigen normalerweise kaum sichtbaren Falten bildeten tiefe Linien in seine schweißglitzernde Haut. Das dünne hellblonde Haar klebte auf seiner Stirn. Alle paar Sekunden durchlief ein Schauer seinen gesamten Körper. Carmitha legte ihm die Hand auf die Stirn. Obwohl sie darauf gefaßt war, überraschte sie die Hitze seiner Haut. Seine Gedanken waren voller Besorgnis und Entschlossenheit.
»Erzählst du mir, was passiert ist?« fragte sie.
»Ich habe mich ein wenig schwach gefühlt, das ist alles. Ich muß mich nur ein wenig ausruhen, dann geht es schon wieder. Wahrscheinlich eine Lebensmittelvergiftung, denke ich.«
»Du ißt doch nie etwas«, murmelte Luca.
Carmitha wandte sich zu den neugierigen Zuschauern um. »In Ordnung, das war’s, Leute. Geht raus und macht Frühstückspause oder was weiß ich. Ich brauche frische Luft hier drin.«
Sie verließen gehorsam die Werkstatt. Carmitha bedeutete Susannah zurückzutreten, dann zog sie Johans Decke beiseite. Das Flanellhemd unter seiner Jacke war naß von Schweiß, und seine Knickerbockerhose sah aus, als klebte sie an den Beinen. Von der plötzlichen kühlen Luft begann er zu zittern.
»Johan«, sagte sie entschlossen, »zeig dich mir.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem tapferen Lächeln.
»Das tue ich doch schon.«
»Nein, tust du nicht. Ich möchte, daß du die Illusion auf der Stelle beendest.« Sie ließ nicht zu, daß er ihrem Blick auswich, und zwischen ihnen entbrannte ein lautloser Machtkampf.
»Also gut«, sagte Johan schließlich. Er ließ erschöpft und resignierend den Kopf auf das Kissen zurückfallen. Es sah aus, als würde ein Kräuseln wie von Wasser über seinen gesamten Körper laufen, vom Kopf bis herunter zu den Füßen, wie eine verzerrte Vergrößerung, hinter der ein vollkommen anderes Bild zum Vorschein kam. Johan expandierte in alle Richtungen zugleich. Seine Hautfarbe gewann an Helligkeit, und die Adern darunter wurden sichtbar. Fleckige graue Bartstoppeln sprossen aus seinem Kinn und den Wangen, als er um vierzig Jahre alterte. Beide Augen schienen in die Höhlen zu sinken.
Carmitha sog erschrocken die Luft ein. Es waren die schlaffen Wangen, die ihren Verdacht erhärteten. Um sich Gewißheit zu verschaffen, knöpfte sie sein Hemd auf. Johan war nicht gerade ein klassisches Hungeropfer – deren Haut spannte sich straff über dem Skelett, und ihre Muskeln waren zu dünnen Strängen reduziert, die sich um die Knochen wanden. Johan hingegen sah aus, als wäre sein Skelett eingeschrumpft und hätte einen Hautsack zurückgelassen, der wenigstens drei Nummern zu groß war.
Sie fand unübersehbare Hinweise, daß die Ursache nicht allein zuwenig Essen sein konnte. Die fleischigen Falten waren merkwürdig hart und so an Johans Körper angeordnet, daß sie aussahen wie die Muskeln eines außergewöhnlich gut durchtrainierten Fünfundzwanzigjährigen. Ein paar der Auswölbungen schimmerten rosig, als wären sie wundgescheuert, und manche waren so rot, daß Carmitha der Verdacht kam, es könnte sich um lange blutgefüllte Blasen handeln.
Scham stieg in Johans Bewußtsein auf, als er die Abscheu und das Entsetzen bei den drei Leuten bemerkte, die ihn umrundeten. Die emotionale Schwingung war so stark, daß Carmitha sich auf die Werkbank neben ihn setzen mußte. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und davongelaufen.
»Du wolltest wieder jung sein«, sagte sie leise. »Nicht wahr?«
»Wir haben uns ein Paradies geschaffen«, antwortete er voller Verzweiflung. »Wir können sein, was immer wir wollen. Dazu braucht es nicht mehr als einen Gedanken.«
»Nein«, widersprach Carmitha. »Dazu braucht es sogar eine ganze Menge mehr. Ihr habt nicht einmal eine Gesellschaft, die so gut funktioniert wie die alte Gesellschaft von Norfolk.«
»Das ist etwas anderes«, beharrte Johan. »Wir verändern unser Leben und diese Welt zugleich.«
Carmitha beugte sich über den zitternden Mann, bis ihr Gesicht nur noch ein paar Zentimeter von dem seinen entfernt war. »Du änderst überhaupt nichts. Du bringst dich nur um, das ist alles.«
»In diesem Universum gibt es keinen Tod«, sagte Susannah
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