Armageddon 06 - Der nackte Gott
wieder auf die Beine helfen, aber es ging nicht, ganz gleich, was sie versucht haben. Also legten sie ihn hin und haben mich geschickt, um dich zu holen. Verdammt, ich bin den ganzen Weg hier raus auf einem Pferd geritten. Was würde ich für ein vernünftiges Mobiltelephon geben!«
Carmitha kletterte von der Leiter herunter. »Hast du ihn gesehen?«
»Ja. Er sieht eigentlich ganz normal aus«, antwortete Lucy eine Spur zu schnell. »Er ist bei vollem Bewußtsein, nur ein wenig schwach. Ich glaube, er hat sich einfach überanstrengt. Dieser verdammte Luca glaubt anscheinend immer noch, wir wären alle seine Bediensteten. Wir müssen etwas dagegen unternehmen, weißt du?«
»Sicher«, sagte Carmitha und eilte zwischen den Rosenstöcken hindurch auf die strohgedeckte Scheune zu, wo ihr eigenes Pferd angebunden war.
Als Carmitha in den Stall geritten und abgestiegen war, reichte sie die Zügel ihres Tieres einem der (nicht-besessenen) Jungen, die Johan/Butterworth zu Stallburschen befördert hatte. Er lächelte freundlich und murmelte leise: »Das hat sie alle ziemlich aufgerüttelt.«
Sie zwinkerte. »Zu schade.«
»Wirst du ihm helfen?«
»Kommt darauf an, was es ist.« Seit sie auf Cricklade angekommen war, hatte sich eine überraschende Anzahl von Bewohnern vor ihrem Caravan eingefunden und wegen der verschiedensten Beschwerden um Hilfe gebeten. Erkältungen, Kopfschmerzen, Gliederreißen, Heiserkeit, Verdauungsschwierigkeiten: kleine, belanglose Problemchen, die sie mit ihren energistischen Kräften nur schwer in den Griff bekamen. Gebrochene Knochen und Schnittwunden konnten sie in Null Komma nichts heilen, aber innere Verletzungen und weniger offensichtliche Virusinfektionen bereiteten ihnen Schwierigkeiten. Also hatte Carmitha damit angefangen, die alten Kräutertränke und Tees ihrer Großmutter zu verteilen. Bald darauf hatte sie den Kräutergarten des Hauses übernommen, und seither hatte sie zahlreiche Abende damit verbracht, die getrockneten Blätter und Blüten in einer Reibschale zu zermahlen, zu mischen und die entstandenen Pulver in ihre alten gläsernen Flaschen zu füllen.
Es hatte ihr mehr als alles andere zu einer allgemeinen Akzeptanz bei den Bewohnern des Herrenhauses geholfen. Sie griffen lieber zu naturalistischen Zigeunerheilmitteln, als daß sie die wenigen qualifizierten Ärzte in der Stadt aufsuchten. Richtig zubereiteter Ginseng (leider genetisch verändert, damit er im einzigartigen Klima Norfolks wachsen konnte und damit wahrscheinlich in seiner ursprünglichen Wirksamkeit beeinträchtigt) und seine botanischen Verwandten bildeten die bevorzugten Grundstoffe für die Art von Arzneien, die Norfolks von Gesetzen eingeengte Pharmaindustrie herstellen durfte. Nicht, daß ihre Vorräte außergewöhnlich groß gewesen wären; außerdem hatte Luca längst den Versuch aufgegeben, mit Boston um weitere Lieferungen zu verhandeln. Die Städter hatten ihre Fabrik auch nicht wieder zum Arbeiten gebracht.
Carmitha fand den Gedanken eigenartig, daß ausgerechnet ihr ursprüngliches Wissen um Pflanzen und Land, kulturelles Erbe ihrer Volksgruppe, welches ihr ermöglicht hatte, sich vor den Besessenen zu verbergen, nur kurze Zeit später dabei half, sich ihren Respekt und sogar ihre Dankbarkeit zu verdienen.
Die Zimmermannswerkstatt war in einem großen einstöckigen Gebäude auf der Rückseite des Herrenhauses untergebracht, mitten in einer ganzen Reihe verwirrend ähnlicher Bauwerke, die wild durcheinandergewürfelt herumstanden wie das Labyrinth eines Riesen. Für Carmitha sahen alle ohne Unterschied wie überdimensionierte Scheunen aus, mit hohen Holztoren und steilen solarzellengedeckten Dächern – doch sie beherbergten eine Stellmacherei, eine Molkerei, eine Schmiede, eine Steinhauerei, zahllose Werkstätten und sogar eine Pilzzucht. Die Kavanaghs hatten gründlich sichergestellt, daß sie über jedes notwendige Handwerk verfügten, um das Gehöft praktisch unabhängig von externen Zulieferern zu machen.
Als Carmitha eintraf, trieben sich mehrere Leute im Eingangsbereich der Zimmerei herum. Sie wirkten verlegen wie jemand, der einen Familienkrach über sich ergehen lassen mußte: Sie wollten lieber irgendwo anders sein, aber sie hatten Angst, etwas zu verpassen.
Carmitha wurde mit erleichterten Rufen und Lächeln begrüßt und rasch ins Innere des Gebäudes geführt. Die elektrischen Sägen und Hobel und Zapfenmaschinen standen still. Die Zimmerleute hatten eine der Werkbänke von
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