Armageddon 06 - Der nackte Gott
Norfolk Tears oder Pferde dafür eintauschen, werden die anderen sagen, wir hätten es gestohlen. Wir könnten nicht mehr zurückkehren, nicht einmal nach Kesteveen.«
»Wir?«
»Ja, wir. Sie sind unsere Kinder, und das hier ist unser Zuhause.«
»Das eine bedeutet nichts ohne das andere.«
»Ich weiß nicht«, sagte sie tief beunruhigt. »Wer garantiert uns, daß die Besatzung der Cranborne sich an die Vereinbarung hält, wenn wir erst auf hoher See sind?«
»Wer hindert uns daran, ihr das ganze Schiff zu stehlen?« entgegnete Luca müde. »Wir leben wieder in einer Zivilisation, Liebling. Es ist nicht die beste, das weiß ich sehr genau, aber sie ist da, und sie funktioniert. Und wir sind imstande, Verrat und Täuschung schon auf weite Entfernung zu erkennen.«
»Also schön. Willst du gehen? Es ist schließlich nicht so, als hätten wir nicht genug Schwierigkeiten«, sagte sie mit einem schuldbewußten Seitenblick auf den diplomatisch schweigenden Lionel.
»Ich weiß es nicht. Ich will dagegen ankämpfen. Wenn ich gehe, heißt es, daß Grant gewonnen hat.«
»Das ist kein Kampf, das ist eine Sache des Herzens.«
»Wessen Herz?« flüsterte er schmerzerfüllt.
»Verzeihung«, unterbrach Lionel die beiden. »Haben Sie bedacht, daß die Seelen in den Körpern Ihrer Töchter Sie vielleicht gar nicht sehen möchten? Was wollen Sie überhaupt tun, wenn Sie sie gefunden haben? Schließlich können Sie sie nicht einfach exorzieren und dann in den Sonnenuntergang davonspazieren. Sie werden Ihnen genauso fremd sein wie umgekehrt.«
»Sie sind mir nicht fremd!« sagte Luca und sprang nervös aus dem Stuhl. Er zitterte am ganzen Leib. »Verdammt, ich kann einfach nicht aufhören, mir Sorgen zu machen!«
»Wir alle unterliegen immer stärker unseren Wirten«, sagte Lionel leise. »Am einfachsten ist es noch, wenn wir uns fügen. Wenigstens haben wir dann ein wenig Frieden. Sind Sie dazu willens?«
»Ich weiß es nicht«, stöhnte Luca. »Ich weiß es einfach nicht!«
Carmitha fuhr mit den Fingern über den Arm der Frau, um die Struktur der Muskeln und Knochen und Sehnen zu ertasten. Sie hielt die Augen geschlossen, während sich ihr Bewußtsein auf den Wirbel aus nebulösen Strahlen konzentrierte, aus dem das Fleisch bestand. Es war nicht allein das taktile Fühlen, auf das sie sich verließ; die einzelnen Zellen bildeten deutlich unterscheidbare Schattenbänder, fast wie bei einem sehr unscharfen Röntgenbild des menschlichen Körpers. Ihre Fingerspitzen glitten zwei Zentimeter weiter, drückten einzeln sehr vorsichtig zu, als spielten sie auf einem Piano, dann glitten sie erneut weiter. Es dauerte mehr als eine Stunde, einen menschlichen Körper auf diese Weise zu untersuchen, und selbst dann war die Methode kaum hundertprozentig zuverlässig. Nur die Oberfläche erschloß sich der Inspektion. Es gab eine ganze Menge verschiedener Arten von Krebs, die Organe, Drüsen und Mark beeinträchtigten, heimtückische Monster, die unbemerkt blieben, bis es viel, viel zu spät war.
Irgend etwas unter ihrem Zeigefinger glitt zur Seite. Sie spielte damit, prüfte seine Beweglichkeit. Ein harter Knoten, fast wie ein eingekapselter kleiner Stein unter der Haut. In ihrem Bewußtsein leuchtete er als weißes verschwommenes Gebilde mit einem Saum hauchdünner Tentakel, die sich in das umgebende Gewebe erstreckten. »Noch einer«, sagte sie.
Die Antwort der Frau war fast ein Schluchzen. Carmitha hatte auf die harte Tour gelernt, ihren Patienten nichts zu verbergen. Ohne Ausnahme hatten sie ihr Erschrecken stets längst bemerkt, bevor sie etwas sagen konnte.
»Ich werde sterben«, jammerte die Frau. »Wir alle werden sterben, wir verfaulen von innen heraus. Das ist die Strafe dafür, daß wir aus dem Jenseits geflohen sind.«
»Unsinn. Diese Körper sind genetisch angepaßt, und das macht sie unglaublich resistent gegen Krebs. Wenn du erst aufhörst, ihn mit deiner energistischen Macht zu reizen, müßte sich alles wieder zurückbilden.« Ihr verbales Standardplacebo, das sie seit dem Tag, an dem Butterworth kollabiert war, so oft wiederholt hatte, daß sie inzwischen selbst angefangen hatte es zu glauben.
Carmitha setzte die Untersuchung fort. Sie passierte den Ellenbogen; es war nur noch eine Formalität. Die Oberschenkel der Frau waren am schlimmsten betroffen gewesen; Knoten so groß wie Walnüsse, wo sie das Fett vertrieben hatte, um sich selbst zu einem jugendlich schlanken Körper zu verhelfen. Doch jetzt hatte
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