Armageddon 06 - Der nackte Gott
atmete noch, aber nur sehr langsam, und die Luft strich leise über die Eiszapfen, die seine Lippen verkrustet hatten. Tolton zitterte nicht mehr länger.
Dariat rollte sich zurück auf seine eigene Liege und wartete geduldig. Es dauerte noch weitere zwanzig Minuten, bevor Toltons Geist aus dem aufgedunsenen Kleiderbündel stieg. Er warf einen staunenden Blick zu Dariat, dann legte er den Kopf in den Nacken und lachte brüllend.
»O Scheiße, wer soll mir das je glauben? Ich bin eine Poetenseele.« Das Lachen verebbte zu einem Schluchzen. »Eine Seele von einem Poeten. Kapierst du das? Du lachst ja gar nicht, und es ist irrsinnig lustig. Es ist der letzte Witz, den du für den Rest der Ewigkeit zu hören bekommst. Warum verdammt noch mal lachst du nicht?«
»Pssst.« Dariat hatte den Kopf erhoben. »Hast du das gehört?«
»Wie sollte ich nicht? Dort draußen wartet eine Billion Billionen Seelen auf uns. Selbstverständlich kann ich sie verdammt noch mal hören!«
»Nein, ich meine nicht die Seelen in der Melange. Ich dachte, ich hätte jemanden rufen hören. Eine menschliche Stimme.«
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14. Kapitel
Es war eine lange Nacht gewesen für Fletcher Christian. Er war die ganze Zeit über an den Altar gefesselt gewesen, und elektrischer Strom wurde durch seine Gliedmaßen geleitet, während ringsum der Irrsinn getobt hatte. Er hatte zugesehen, wie Quinn Dexters Anhänger das wunderbar kunstvolle Holzmodell der St. Paul’s Cathedral in Stücke geschlagen hatten, angefertigt von Sir Christopher Wren, der damit seinen Traum sichtbar hatte machen wollen. Die Bruchstücke waren in die Kohlenbecken geworfen worden, die nun das Innere der Kathedrale erhellten. Das lautlose Gemetzel, als Menschen vor den entweihten Altar geschleppt wurden, wo Dexter mit dem Erinnerungslöscher wartete. Fletcher hatte geweint, als ihre Seelen zerstört worden waren, um die Körper mit Seelen aus dem Jenseits zu beleben, Persönlichkeiten, die den Wünschen des Dunklen Messias gefügiger waren. Salzige Tränen waren über die Runen gelaufen, die seine Wangen verunstalteten, und hatten gebrannt wie Säure. Courtneys irres Lachen, als Dexter sie immer und immer wieder genommen hatte, bis Blut geflossen war und Haut Blasen warf.
Frevel. Mord. Barbarei. Es hörte niemals auf. Jeder Akt hämmerte auf die wenigen Sinne ein, die Fletcher noch geblieben waren. Er hatte das Vaterunser gebetet, wieder und wieder, bis Dexter ihn gehört hatte und die Besessenen zu ihm gekommen waren und obszöne Gesänge angestimmt hatten. Ihre grausamen Worte hatten ihn durchbohrt wie Dolche, und ihre Freude am Bösen hatte seine Gebete zum Verstummen gebracht. Fast fürchtete er, unter dem Druck ihrer Verderbtheit den Verstand zu verlieren.
Und während dieser ganzen Zeit hatte die Konzentration energistischer Macht zusammen mit ihrer Zahl zugenommen, hatte sich ausgebreitet, um Bewußtsein und Materie ohne Unterschied zu umschlingen. Dies hier war nicht das gemeinsame Verlangen, das Fletcher von Norfolk her kannte, die Sehnsucht, sich vor der Leere des Himmels zu verstecken. Hier absorbierte Quinn Dexter alles, was seine Anhänger an Kraft zu bieten hatten, und formte es mit seinen eigenen verdammenswerten Begierden.
Als das düstere rote Licht durch die offene Tür kroch und die Nacht verhöhnte, hörte Fletcher endlich die Schreie der gefallenen Engel. Fast hätte ihr Auftauchen seine Entschlossenheit zerbrochen. Nicht einmal ein Mensch wie Dexter konnte ernsthaft daran denken, diese Bestien auf die Menschheit loszulassen.
»Nein!« heulte Fletcher auf. »Nein! Ihr dürft sie nicht herbringen! Das ist Irrsinn! Irrsinn! Sie werden uns alle verschlingen!«
Dexters Gesicht glitt über ihm ins Blickfeld. Er strahlte kalte Befriedigung aus. »Wurde auch allmählich Zeit, daß du es begreifst.«
Die Lady Macbeth materialisierte mitten im interstellaren Raum, eintausendneunhundert Lichtjahre von der Konföderation entfernt. Das Gefühl von Isolation und Einsamkeit der Menschen an Bord war nichts im Vergleich dazu, wie klein sie sich angesichts dieser Entfernung vorkamen.
Die optischen Sensoren glitten aus ihren Rumpfnischen und sammelten ein, was an Photonen in ihre Richtung kam. Navigationsprogramme korrelierten die Informationen mit der vorhandenen Datenbasis und stellten die Position der Lady Macbeth fest. Joshua triangulierte ihr Ziel, einen unauffälligen hellen Punkt, der nur noch zweiunddreißig Lichtjahre entfernt lag. Die nächsten
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