Armee der Toten
könnte man mich irgendwo auf eine Insel im Eismeer setzen.«
»Richtig.«
»Und mich für die Nachwelt einfrieren.«
»Stimmt.«
»Willst du mit auf die Insel?«
»Mit dir würde es mir nicht langweilig.«
»Aber zu kalt«, parierte sie lachend.
»Das ist wohl wahr.«
Wir waren inzwischen in dem Gebiet der schlechteren Straßen gelandet. Die Fahrt verlief nicht mehr so glatt. Schlaglöcher oder Stellen, wo sich der Belag nach oben gedrückt hatte, wechselten sich ab, so dass unsere Fahrerei schon zu einer Schaukelei wurde. Hätte man mich hier ausgesetzt, es wäre mir verdammt schwer gefallen, den Rückweg zu finden, aber ich vertraute auf Karina, die sich auskannte und um die kantigen Wohnblocks herumfuhr, als wäre sie hier aufgewachsen.
Hin und wieder sah ich am Straßenrand stehende Autos. Sie waren nur vereinzelt vorhanden, kein Vergleich zu London, wo es so gut wie keine Parkplätze gab.
»Wir sind gleich da«, erklärte Karina.
Das sagte sie genau in dem Augenblick, als wir wieder mal einen Wagen passierten. Automatisch warf ich einen Blick durch die Scheibe auf den geparkten Wagen und glaubte sogar, hinter den Scheiben einige Gestalten zu sehen, die im Auto hockten, als warteten sie darauf, dass der Tag die Dunkelheit ablöste.
Das wollte ich nicht so unterstreichen. Nicht in dieser Stadt. Als wir um eine Ecke bogen, drehte ich mich und warf noch einen Blick zurück. Dabei glaubte ich zu sehen, dass die Türen aufschwangen. Sicher war ich mir allerdings nicht.
»Hat dir nicht gefallen, wie?«
Ich war ehrlich. »Nein.«
»Damit musst du in Moskau rechnen. Auch wenn die Straßen ruhig aussehen, eine richtige Ruhe wirst du nicht finden. Unter der Decke gärt es immer, John, verlass dich drauf.«
»Ja, ja, das befürchte ich.«
Karina fand das Haus. Sie fuhr langsamer und wies kurz nach rechts in meine Richtung. »Da wohnt unser Freund.«
Ich sah mir den Block an und stellte fest, dass er sich von den anderen, die ich gesehen hatte, in nichts unterschied. Wer hier jemanden suchte, der musste sich schon auskennen.
»Warst du schon mal hier, Karina?«
»Nicht im Haus. Nur daran vorbeigefahren.«
»Aha.«
»Aber das wird sich ändern.«
Es war für uns kein Problem, einen Parkplatz zu finden. Freie Stellen gab es genug, und als wir ausstiegen, da raste der Wind auf uns zu und fuhr gegen unsere Gesichter.
Irgendwo hörte ich ein singendes Geräusch. Auch das hatte mit den Böen zu tun, die um die Ecken pfiffen. Mein Haar wurde in die Höhe gewirbelt, und ich merkte, dass es verdammt kalt geworden war.
Karina Grischin ging mit zügigen Schritten auf das Haus zu. Ich blieb etwas hinter ihr und schaute mich dabei um, weil ich auf irgendwelche Menschen achtete, die in der Nähe lauerten oder sich an unsere Verfolgung gemacht hatten.
Das Haus war ein Kasten. Ein Wohnsilo. Ein Plattenbau, wie ich ihn schon aus dem Osten Deutschlands kannte. Aber die Wohncontainer im Westen waren oft genug auch nicht besser, deshalb sollte sich niemand über die Bauweise hier erhaben fühlen.
Der Wind fing sich wie in einem Kanal. Er fand noch immer genügend Beute, die er vor sich hertreiben konnte. Pappe, Blech, Papier, und das in den unterschiedlichsten Formen und Größen.
Im Freien sahen wir niemanden mehr. Das Licht, das aus den Fenstern drang, sah oft sehr blass aus. Wir hörten auch keine Stimmen, als wir den Hausflur betraten.
Durch Anleuchten des Klingelschilds hatte Karina festgestellt, wo wir hinmussten.
»Nur in die vierte Etage.«
»Kinderspiel.«
»Er wohnt dort, wo sich die Außengalerien befinden, glaube ich. Also kommen wir auf einem anderen Weg in seine Bude als auf dem normalen.«
»Woher weißt du das?«
»Mir ist gerade eingefallen, dass Jarolin mal davon gesprochen hat.«
»Gut. Trotzdem, Karina. Willst du ihn nicht noch mal anrufen?«
»Wozu?«
»Okay, es ist deine Entscheidung.«
Wir orientierten uns an der Treppe. Sie führte in die Dunkelheit hinein. Karina suchte einen Lichtschalter, fand ihn auch, und es wurde etwas heller. Einige Lampen funktionierten nicht mehr, aber wir sahen wenigstens die Stufen.
Im Haus blieb es auch weiterhin ruhig.
In der vierten Etage blieben wir stehen. Karina drehte sich auf der Stelle. Sie fand die Tür, die auf die Galerie führte. Ein Schloss gab es nicht. Ohne Probleme konnten wir die Tür aufziehen und nach draußen treten in die Kälte und ebenfalls in den Wind, der hier stärker zu spüren war.
Wie ein großes, hart geschlagenes Tuch
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