Armee der Toten
mir.«
Wir bedankten uns, lehnten allerdings ab und hatten nichts dagegen, dass sie sich einen Schluck auf den Schreck gönnte. Die wasserklare Flüssigkeit floss in ein recht großes Glas, das allerdings nicht bis zum Rand gefüllt wurde.
Als sie einen kräftigen Schluck nahm, durchrieselte sie ein Schauer, und sie schloss für einen Moment die Augen. »Da habe ich ja verdammt viel Glück gehabt.«
»Und ob«, sagte ich. »Unsere Feinde nehmen auf nichts und niemanden Rücksicht.«
»Aber wer sind diese Menschen?«
»Wir wissen es noch nicht«, erklärte Karina.
»Und dieser Künstler, der plötzlich schoss und dann flüchtete. Mein Gott, was war das?«
Karina zuckte mit den Schultern.
Svetlana wandte sich an mich. »Sagen Sie ehrlich, ist das noch ein Mensch gewesen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Kein normaler, nehme ich an.«
»Was dann?«
»Das werden wir herausfinden müssen.«
Sie griff wieder nach dem Glas und drehte es zwischen ihren Fingern. »Ich habe ihn heute auch lebend zum ersten Mal gesehen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er wieder in seinem Haus erscheint. Jeder hier im Ort ist davon ausgegangen, dass er sich sang- und klanglos verabschiedet hat, weil es ihm hier doch zu langweilig war. Jetzt kenne ich das Gegenteil.«
»Ich bezweifle, dass er so schnell zurückkehren wird«, sagte ich.
»Was macht Sie denn so sicher?«
»Er weiß, dass wir ihm auf der Spur sind. Da wird er sich vorsehen, das können Sie mir glauben.«
Svetlana schaute mich an, ohne mich richtig zu sehen. Mit ihren Gedanken war sie woanders. »Es war einfach nur schrecklich für mich«, flüsterte sie. »Da steht man nichts ahnend im Wohnzimmer eines Künstlers, und plötzlich wird auf einen geschossen. Einfach so. Ich glaube, ich wäre jetzt tot, wenn Sie nicht gewesen wären. Ja, das denke ich.«
»Warum?«
»Weil er sich mehr auf euch beide konzentriert hat und nicht auf mich. Hätte er zuerst auf mich gezielt, wäre es vorbei gewesen. So habe ich mich einfach zu Boden geworfen und später die Augen geschlossen.«
»Aber Sie haben Kromow schon gesehen?«, fragte Karina Grischin.
»Ja, das habe ich. Der sah ja schlimm aus. War er eigentlich nackt? Mir kam es so vor.«
Ich übernahm die Antwort. »Nein, er trug etwas um seine Hüfte oder die Oberschenkel. Ganz nackt ist er nicht gewesen.«
»Ich habe noch immer Angst.«
»Das können wir verstehen.«
»Und Sie machen weiter?«
Karina nickte.
»Wie denn und wo denn? Haben Sie schon einen Plan?«
»Er muss ja irgendwohin geflohen sein«, erklärte die Agentin mit ruhiger Stimme. Für uns kommt da eigentlich nur ein Platz in Frage, zu dem man ihn geschafft hat. Es ist der Steinbruch.«
Große Augen schauten Karina an. »Der Steinbruch?«
»Ja. Der Wagen fuhr zumindest in diese Richtung.«
»Aber da gibt es noch andere Orte.« Sie wollte sie auf zählen, doch Karina winkte ab.
»Nein, nein, es bleibt dabei. Wir denken daran, dass er sich dort versteckt hält.«
»So leer, so kalt, so menschenfeindlich«, flüsterte die Bürgermeisterin. »Das kann ich mir kaum vorstellen. Er ist wirklich verlassen, das müssen Sie mir glauben.«
»Ja, damals von den Arbeitern.«
»Meinen Sie, dass er wieder besetzt ist?«
»Bestimmt nicht von normalen Menschen«, sagte ich. »Aber er ist ein gutes Versteck.«
»Das stimmt.«
»Und deshalb möchten wir Sie noch etwas fragen, Svetlana. Kann es sein, dass es hier irgendwo in diesem Gebäude oder auch woanders einen Plan von dem Steinbruch gibt?«
»Da müsste ich mal meinen Sekretär fragen«, sagte Svetlana. »Wassilij kennt sich da besser aus. Der ist ein richtiger Schreibtischwurm und Aktenfresser.«
Das hatte ich mir schon gedacht, als wir ihn gesehen hatten. Svetlana stand auf. Mit noch immer leicht wackligen Knien ging sie ins Vorzimmer und sprach mit dem Knaben.
»Er ist es, John, ich bin mir sicher!«, flüsterte Karina mir zu. »Eine andere Möglichkeit gibt es für mich nicht.«
»Sicher.«
Die Bürgermeisterin mit den roten Haaren kehrte wieder zurück. Zwar lächelte sie, aber es sah bedauernd aus. »Nein, Wassilij weiß auch nichts.«
»Gab es denn welche?«
»Wenn, dann nicht hier und nur bei der Firma, die den Steinbruch damals betrieben hat. Sie haben ihn ja jetzt aufgegeben und alles mitgenommen.«
»Schade«, sagte ich.
»Moment, Mr. Sinclair. Wassilij hat mir trotzdem einen Tipp geben können. Er ist hier aufgewachsen und hat gesagt, dass er den Steinbruch kennt. Als Kinder und
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