Arminius
gefressen. Um die Kreuze herum lagen verstreut die übrigen Legionäre, die Kehlen durchgeschnitten, die Genicke gebrochen, die Leiber durchbohrt, die Schädel gespalten, wie es sich gerade traf, als die Wut der Cherusker, der furor cheruskos, über sie gekommen war wie eine Sturmflut des Verderbens.
Nun drang auch der fette Geruch des Blutes unaufhaltsam in seine Nasenflügel ein und erzeugte ein Gefühl der Übelkeit. Ergimer würgte, aber er hatte so lange nichts mehr gegessen, dass er nur Galle spuckte. Zahllose Fliegen und Mücken schwirrten geschäftig über den Leichen. Bald schon würden auch andere Tiere Bankett halten.
Der Junge wollte die Augen abwenden, doch er konnte sich nicht von dem Anblick lösen, bevor das grausige Bild hinter einem Schleier aus Tränen verschwand. Er fiel auf die Knie und krallte die Finger in den blutgetränkten Waldboden. Dann schlug er voller Abscheu die Hände vors Gesicht, wo sich Blut und Erde mit seinen Tränen mischten. Ergimer wusste, dass sein Vater dieses Gemetzel angerichtet hatte. Aber wo war er? Wo war sein Vater?
Er sprang auf und rief nach ihm. Immer wieder schrie er: »Vater!« Dann rannte er los, ohne seine Umgebung wahrzunehmen, lief, so schnell er konnte, um den Bildern zu entkommen, dem blutigen Menschentod, den er viel zu früh gesehen hatte. Wie gehetzt von dem Wunsch, den eigenen Schatten abzuhängen, raste und taumelte er am Ende nur noch durch den Forst, völlig außer sich, von einem fremden Willen gelenkt. Im schwindenden Tageslicht brach der Junge schließlich entkräftet zusammen und sank wimmernd auf den kühlen Waldboden.
Als Ergimer wieder zu sich kam und sich umschaute, war es dunkle Nacht. Aus der Tiefe des Waldes leuchteten ihm gelbe Augen entgegen – Wölfe! Der Junge nahm alle Kraft zusammen und kletterte auf einen Baum. Unter ihm versammelte sich das Rudel und wartete. Verzweifelt kämpfte er darum, wach zu bleiben, doch seine Lider wurden immer schwerer, wie Felsgestein drückten sie ihm auf die Augen. Wirklichkeit ging in Traum über, ein weicher Mantel aus Geborgenheit legte sich um seinen erschöpften Körper, und er seufzte wohlig auf. Er wollte sich nur noch fallen lassen … Da traf ihn wie eine schallende Ohrfeige der Schreck. Er riss die Augen auf und hielt sich hastig fest. Sein Herz raste. Er war eingeschlafen und drauf und dran gewesen, von seinem sicheren Hort herabzustürzen.
Die Wölfe waren immer noch da und lauerten. Sie spürten, dass der Junge nicht ewig würde durchhalten können und dass er ihnen zur Beute bestimmt war. Wenn nur Elda hier gewesen wäre, wie gut hätten sie sich gegenseitig wachgehalten! Er versuchte, sich die Freundin vorzustellen und mit ihr zu sprechen.
Nach einer Weile rutschte er erneut ab und griff beim Erwachen panisch um sich. Zu spät, er bekam nur noch einen morschen Zweig zu fassen, der brach, ohne ihm Halt zu bieten. Ergimer fiel.
2
Seit es zwei Wochen zuvor den Rhenus überschritten hatte, bahnte sich das römische Eroberungsheer unter dem Feldherrn Nero Claudius Drusus unaufhaltsam seinen Weg durch den Herzynischen Wald, der zwischen Rhenus und Albis, zwischen Mare Suebicum und Danuvius lag, durch die sagenumrankten Wälder und Gebirge Germaniens. Für alle, vom Feldherrn über die Legaten und Militärtribunen bis hinunter zum kleinsten Legionär bedeutete diese Expedition eine kühne Reise ins Unbekannte. Natürlich gehörte der Tod zu den Berufsrisiken des Soldaten, doch welche Gefahren in diesem fremden Land lauerten, wussten die Männer nicht. Ein paar Tage zuvor hatte sie die Nachricht vom ehrlosen Tod der Hundertschaft erreicht. Nun trieb sie der Wunsch nach Rache vorwärts, sie lechzten nach Vergeltung für ihre gekreuzigten Waffenbrüder.
Schier endlos zog sich der römische Heerwurm in Marschordnung dahin. Inmitten des langen Zuges aus vier Legionen holperte, von acht Pferden gezogen, ein großer Reisewagen. Im Innern des hölzernen Verschlages war die Kutsche großzügig mit Betten, Stühlen, einem Tisch, zwei Schränken und Fellen ausgestattet.
Das Türfenster des Gefährts stand wegen der großen Hitze offen, doch Julius hatte längst die Lust verloren hinauszuschauen. Auf dem Boden sitzend spielte er mit Tonfiguren. Der Anblick der tiefen Wälder, der dunklen Täler und tristen Ebenen, auch der armseligen Siedlungen, an denen sie vorbeikamen, drückte auf das Gemüt des Knaben. Das berüchtigte Germanien kam ihm wüst und unbewohnbar vor, mit einem Wort barbarisch.
Weitere Kostenlose Bücher