Arminius
und Kinder am nächsten Tag das Haus wieder leidlich in Ordnung gebracht. Nun begannen sie damit, das Fleisch der hingemetzelten Tiere zu verarbeiten. Sie mühten sich, so viel wie möglich davon durch Pökeln und Räuchern für den Winter zu retten. Es bedeutete Glück im Unglück, dass die Schafe noch auf den Sommerwiesen weideten, sonst hätten Segimer und seine Leute wohl Raubzüge unternehmen müssen, um während der eisigen Jahreszeit nicht zu verhungern.
Ergimer hielt immer wieder Ausschau, weil er die Rückkehr des Vaters herbeisehnte. Längst war der Stolz auf ihn der Angst gewichen, und der Junge brannte darauf, dem Vater zu Hilfe zu eilen. Nachdem er der Mutter den ganzen Vormittag geholfen hatte, gelang es ihm endlich, sich unbemerkt davonzuschleichen. Rasch verschwand er im Unterholz und hielt sich im Wald abseits des Weges, weil er fürchtete, dort den Römern in die Arme zu laufen. Bald hatte er sich weiter vom Hof entfernt, als es ihm der Vater gestattete, längst den Bach, der als Grenze seiner kindlichen Ausflüge in die Umgebung galt, hinter sich gelassen.
Nach einer großen Strecke zurückgelegten Weges stieß Ergimer Stunden später auf Steine, die in zwei Reihen zu einem großen Doppelring angeordnet waren. Zwischen beiden Kreisen verlief ein Spitzgraben, fünf Ellen tief und drei Ellen breit. In dem magischen Kreis standen ausnahmslos Eichen. Der abgetrennte Bereich wirkte licht, heiter, verwunschen, weil die Bäume vereinzelter standen als im übrigen Wald. Vor Ergimer lag ein heiliger Hain, der, den Eichen nach zu urteilen, Donar oder Wotan geweiht war. Hätten dort nur Buchen gestanden, wäre es, das wusste der Knabe, ein Heiligtum des einarmigen Gottes Tyr gewesen, des Kriegsgottes. Und da der Krieg der Vater aller Dinge war, verehrten die Cherusker Tyr auch als Gott des Lebens und des Kampfes.
Unschlüssig blieb Ergimer stehen. Als Minderjähriger, der sich noch ein paar Jahre zu gedulden hatte, bis er in den Kreis der Krieger aufgenommen werden würde, war der Hain für ihn tabu. Wotan oder Donar nähmen gewiss schreckliche Rache, wenn er den Frevel wagen und den verbotenen Ort betreten würde. Nach einigem Überlegen beschloss er, den göttlichen Bezirk zu umgehen, denn dort würde sein Vater seine Hilfe nicht benötigen. Wer könnte den Gefolgsherrn besser beschützen als der mächtige Wotan oder der hammerschwingende Donar?
Erst jetzt bemerkte Ergimer, dass er hoffnungslos die Orientierung verloren hatte. Ratlos blickte er um sich und entdeckte zwischen den Bäumen einen majestätischen Hirsch mit einem gewaltigen Geweih. Es kam ihm vor, als schaue das Tier ihn an, bevor es kehrtmachte und tiefer in den Wald schritt. Ergimer konnte nicht anders, als ihm zu folgen. Der Hirsch führte den Jungen zu einer weiten Lichtung, die von einer üppigen Wiese bedeckt war. Dann verschwand er so rasch, wie er aufgetaucht war. Der Sohn des Segimer war wieder allein.
Ergimer musste an Elda denken, die Tochter des Fürsten Segestes. Ach, wenn sie doch hier wäre, Elda mit ihrer Unerschrockenheit und Klugheit! Wenn sich die Gefolgschaftsherren zweimal jährlich zum Thing trafen, nahmen sie ihre Familie zum Versammlungsplatz mit. Während die Männer und Frauen berieten, vertrieben sich die älteren Kinder die Zeit mit Spiel, auch beaufsichtigten sie zusammen mit den Kinderfrauen die jüngeren Geschwister. Vor zwei Jahren war Ergimer Elda zum ersten Mal begegnet und hatte Freundschaft mit ihr geschlossen. Seit dieser Zeit freute er sich jedes Mal auf das nächste Thing, wo er sie wiedersehen würde. Mit Elda zusammen kannte er keine Furcht. Nichts, aber auch gar nichts konnte die beiden aufhalten, wenn sie es gemeinsam anfingen. Aber es half nichts, Elda war weit weg, und Ergimer musste den Vater wohl oder übel allein suchen.
Wie zuvor in seinem Traum wurde plötzlich der Himmel dunkel vom Schwarz der Raben. Sie kreisten über dem saftigen Grün und einem unwirklichen Dunkelrot – einer blutigen Farbe, die den Jungen vor Entsetzen erstarren ließ. Er wagte kaum zu atmen. Vor ihm erhoben sich zwölf hohe Pfähle, die mit je einem Querbalken versehen waren. An diesen hingen der Centurio und elf seiner Soldaten, gekreuzigt, die Augen aus den Höhlen geschnitten. Ergimer ahnte, was das bedeutete. Die Legionäre sollten das, was sie gesehen hatten, nicht in die Schattenwelt mitnehmen und waren auf ewige Zeiten dazu verdammt, nach dem Tode blind umherzuirren. Die Augen hatten die Raben längst
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