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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Senzel
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deswegen. Trotzdem sagte ich meinem Chef, ich wolle mehr. »Sie sind ein Hochleistungssportler, der sich beide Beine gebrochen hat«, sagte er, »lernen Sie doch erst mal wieder laufen.«
     
    Und tatsächlich strauchelte ich mächtig. Meine Probleme hatten sich in der Zwischenzeit nicht in Luft aufgelöst, sondern brav gewartet. Trafen mich mit solcher Wucht, dass mir die Luft wegblieb. Es gab Verpflichtungen, die keine Rücksicht auf Befindlichkeiten nahmen. Ich war voller panischer, verzweifelter Überforderung. Überzeugt davon, dass jeder mich beobachtete und sich fragte, ob ich’s denn wohl schaffe … Und das musste ich ja wohl. Wo ich doch wochenlang in der Klinik war und meine Probleme gelöst hatte.
    Meine Probleme hatten sich während der Therapie nicht in Luft aufgelöst, sondern brav gewartet. Trafen mich mit solcher Wucht, dass mir die Luft wegblieb. Ich war voller panischer, verzweifelter Überforderung. Überzeugt davon, dass jeder mich beobachtet und sich fragt, ob ich’s denn wohl schaffe … Und das musste ich ja wohl. Wo ich doch wochenlang in der Klinik war, um meine Probleme zu lösen.
    Ich wohnte damals auf einem umgebauten alten Frachtsegler. Der Traum eines hessischen Binnenländlers von der weiten See. Ein wundervoller Platz zum Träumen. Die Abende am Kamin, der Kontrollgang über Deck, die schreienden Möwen, das leichte Schwanken.
Auf das Wasser zu schauen und die Teakholzspeichen des großen Steuerrades streicheln und sich vorstellen, auf hoher See zu sein. Um allein damit loszusegeln, war das Schiff zu groß mit seinen 27 Metern und der Technik von 1918. Es war im Grunde auch zu groß und zu alt, um es mit vertretbarem Aufwand instand zu halten. Ich hatte das Schiff schon lange vor meinem Zusammenbruch vernachlässigt, der Rost blühte, das Holz faulte und die Elektrik fiel komplett aus. Ich saß im Dunkeln und fror. Mein Traum wurde zu einem stählernen Gefängnis, das langsam, aber sicher mit mir verrottete.
    Ich hatte wenig Lust, Leute zu treffen. Wenn ich aus dem Funkhaus kam, war ich dermaßen erschöpft, dass ich nur noch nach Hause wollte. Abhängen, entspannen, einen Wein trinken. Aber ich war kein bisschen entspannt. Ich vibrierte. Gelegentlich traf sich meine Ex wieder mit mir, mit ihrem Neuen lief es wohl nicht so gut. Ich lud sie zum Essen und ins Kino ein und erzählte ihr, wie sehr mich die Therapie verändert hätte. Dann fuhr ich sie wieder nach Hause. Zu ihrem Freund.
    Mein Leben fühlte sich durch und durch trostlos an. Ich hatte mich mutig mir selbst gestellt – aber das half mir jetzt nicht weiter. Ich spürte, wie mir das Leben schon wieder entglitt. Ich war mutlos, verzagt und unsagbar erschöpft. Stemmte mich mit aller Kraft gegen die Bleidecke, die sich wieder über mich legte. Weil es diesmal keinen Ausweg gab, wenn ich es nicht schaffte. Es machte mir Angst, mit welcher Wehmut ich zuweilen an die Abende im Gemeinschaftsraum der Klinik dachte, mich nach den Gesprächen mit Dr. B. sehnte.
    Ich traf mich mit einer Mitpatientin, die zwei Wochen
nach mir entlassen worden war. Caren war wegen eines Drogenproblems in der Klinik gewesen und wir hatten auf der Toilette meines Privatzimmers so manchen Joint geraucht. Jetzt rauchten wir Heroin. Ja, Heroin … Ich konnte zum ersten Mal verstehen, was mein Bruder mit dem tiefen Frieden beschrieb, den ihm das Heroin schenkte. Ich hatte damals keinerlei Verständnis dafür, dass man sich einer solchen Droge ausliefern kann. Ich hatte meinen Bruder auf Entzug erlebt, nachdem er aus seinem Umfeld zu mir nach Hamburg geflohen war. Mit einer Gelbsucht. Ich hatte ihn im Krankenhaus besucht und anschließend aufgepäppelt. Und dann hatte es ihn doch wieder gepackt, und ich musste zum Frühdienst – aber Auto und Dirk waren weg. Weil er beim Heroinkauf am Hauptbahnhof von einem Zivilfahnder erwischt wurde. Das Geld hatte er mir natürlich auch geklaut.
    Schließlich war ich unendlich froh, als er wieder nach Darmstadt heimkehrte – wo er sich wenig später den goldenen Schuss setzte. Mit 29 Jahren ist mein Bruder an einer Überdosis in einem Kneipenklo gestorben. Was für ein erbärmlicher Abgang! Ich verstehe bis heute nicht, was da passiert ist. Mein Bruder war ein gut gebauter 1,90 Meter großer Mann mit Intelligenz und Humor und einem einnehmenden Lachen. Ein Sonnyboy. Die Frauenherzen flogen ihm nur so zu. Und er verlor sich ans Heroin, verschleuderte all seine Gaben, um sich immer tiefer und tiefer in die Scheiße zu

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