"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
anderthalb Minuten mit Anstand über die Bühne gebracht. Ich war stolz auf mich. Dass man mit Heroin einfach so wieder aufhören kann, hat mich verblüfft. Vermutlich ist am Ende gar nicht die Droge das größte Problem – sondern die Alternative. Ich hatte eine Menge zu verlieren. Wenig später durfte ich nach Oslo fliegen und über die Hochzeit von Prinz Haakon und Mette-Marit berichten. Ich fasste wieder Fuß im NDR. Wurde wieder Teil dieses Apparates, den ich in meinem Roman auf die Schippe genommen hatte. Ich hatte sämtliche Hoffnungen in dieses Buch gesetzt. Meine letzte Chance, noch mal groß
rauszukommen. Aber keiner wollte es drucken. Zwei Monate früher hätte es mich niedergeschmettert, mir den letzten Strohhalm zerbrochen. Aber nun nahm ich den Misserfolg erstaunlich leicht. Weil es mir dämmerte, dass es möglicherweise doch keine so gute Idee war, in das Nest zu scheißen, in dem ich warm und trocken saß.
Dann bot man mir London an, und damit war das Buch endgültig vergessen. Korrespondent im Vereinigten Königreich, besser geht’s nicht. Der Ritterschlag sozusagen. Ich war schon am Packen, als ein süddeutscher Verlag anrief. Sie hätten Interesse an meinem Buch. Wenn überhaupt, würde ich es unter einem Pseudonym veröffentlichen, das war mir klar. Und um ein Haar wäre mir mal wieder mein Übermut zum Verhängnis geworden, der in meinem Leben stets die fataleren Folgen hatte als mangelndes Selbstwertgefühl. Ich hatte meinen Traumjob in der Tasche, ich war der König der Welt, und jetzt bekam ich auch noch einen Buchvertrag. Ich bin ein Sieger – dachte ich. Besoffen vor Eitelkeit. Aber es wussten so viele Leute von meinem Buch und es kursierten so viele Kopien, dass ein Pseudonym kaum noch mein Inkognito bewahrt hätte. Einen Skandal hätte es sicher nicht ausgelöst, dafür war es zu banal. Aber ich hätte mich unendlich lächerlich gemacht. »Das Radio wird niemals sterben«, ruft das Flurgespenst, als es nach seinem Amoklauf von der Polizei abgeführt wird. Später wird sich ein Terrorkommando, das Rundfunkantennenmasten in die Luft jagt, nach ihm benennen. Puhh! 378 Seiten.
Unschlüssig wiege ich den Packen in der Hand. Vor mir steht ein großer blauer Müllsack, voll mit alten Zeitschriften und angefangenen Tagebüchern, Autokaufverträgen
und Gebrauchsanleitungen von Geräten, die längst nicht mehr existieren. »Genau da gehört es rein«, sagt der Drillsergeant. »Lass los, wirf Ballast ab, das tut gut.« Es ist mir peinlich, aber es gehört auch dazu. Sagt eine Menge darüber aus, wie ich damals gefühlt und gedacht habe. Ein wichtiger Teil meines Lebens – ob es nun veröffentlicht wurde oder nicht. Es ist kein Ballast. Ich kann gut damit leben. Ich stellte es zurück in den Schrank. Vielleicht ist es ja doch ganz komisch, wenn ich es nicht mehr mit den Augen anderer lese, sondern endlich darüber lachen kann. Bleibt nachzutragen, dass ich den Namen meines Beinah-Lektors später noch einmal in einem Zeitungsbericht über einen Arbeitsgerichtsprozess las: Der Mann war nämlich vorher Redakteur einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt gewesen, hatte einen Krimi geschrieben, der in einem fiktiven Spätzle-Sender spielt, und war von jenem fristlos entlassen worden.
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Tag 8 – Auf der anderen Seite des Zauns …
Beethovens Neunte ist wie ein Blick in das Antlitz Gottes. Das habe ich heute in die sogenannten Morgenseiten meines Tagebuchs geschrieben. Ich hatte schon immer eine Neigung zum barocken Pathos. Aber es war wirklich überwältigend, und es wirkt noch immer nach. So viel Verzweiflung, Wahnsinn, Wut und Leidenschaft in Musik auszudrücken. Ich höre ja Musik sonst eher nebenbei. So beim Aufräumen, Zeitunglesen oder Kochen. Aber da in meinem Sessel zu sitzen, die Augen zu schließen und Beethoven in voller Lautstärke zu hören – wow! Da muss er durch, mein Nachbar, ich muss auch 15-mal am Tag den Flohwalzer seiner unbegabten Tochter am Klavier mit anhören.
Beethoven! Du versinkst in diese ruhigen, unglaublich harmonischen, friedlichen Passagen und denkst – ja, jetzt kommt er endlich zur Ruhe und findet Frieden – und dann bricht es wieder mit solcher Gewalt aus ihm heraus, dass du mitleidest mit seiner gequälten, gehetzten Seele, dass es dich anrührt, in welch geniale Schöpfung
menschlichen Genius so viel Leiden an sich selbst geflossen ist. Ich habe geweint, weil ich in seiner Musik diesen zerrissenen Menschen gespürt und er mir so unendlich
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