"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
reiten, wie man so schön sagt. So ein Arschloch, denke ich manchmal wütend – ich vermisse ihn bis heute schmerzlichst. Seinen Witz, seinen Geist, sein sonniges Gemüt, das er sich mit Drogen weggeballert hat. Gibt es einen Punkt, an dem
das Leben kippt? An dem man die Hoffnung und die Zuversicht verliert? Gab es im Leben meines Bruders so einen Punkt? Sein Absturz begann, nachdem er seinen heiß geliebten Hanomag-Bus im Suff zu Schrott fuhr und seinen Hund abgeben musste. Daran war er wohl selbst schuld, natürlich – aber das machte es ja nicht besser. Und ein kaputter alter Bus ist kein Grund, sich gänzlich aufzugeben.
Woran liegt es also, ob wir eine Niederlage als so fatal empfinden, dass sie uns resignieren lässt?
Woran liegt es also, ob wir eine Niederlage als so fatal empfinden, dass sie uns resignieren lässt? Dirk hatte schon eine ganze Reihe hochfliegender Projekte in den Sand gesetzt. Das Informatikstudium war ein Fehlschlag, ein Volontariat schmiss er. Er sollte als Deutschlehrer ein halbes Jahr nach Russland gehen und kehrte entmutigt schon am Moskauer Flughafen um. Er war der Älteste in seiner WG, ein Student ohne Perspektiven, aber zugleich der verrückte Poet mit dem Wohnmobil und dem Hund. Dann brach ihm auch dieser letzte Rückhalt weg.
Es war einer der Lieblingssprüche meines Bruders, dass die schrecklichen Geschichten und Peinlichkeiten von heute zwei Jahre später spannende Geschichten sind. Aber damals hat er offenbar daran nicht mehr geglaubt. Was wäre wohl mit mir geschehen, wenn mein Schiff untergegangen wäre, als es noch alle Hoffnungen und Träume und die Rolle des letzten Piraten trug? Vielleicht würde Dirk heute darüber lachen, wenn sein Hanomag irgendwann durchgerostet auseinandergefallen
wäre, wenn diese eine Trunkenheitsfahrt damals gut gegangen wäre – so wie viele andere davor. So wie viele meiner Fahrten im Suff fürchterlich hätten schiefgehen können. Ich könnte eine Familie mit zwei Kindern auf dem Gewissen haben und selbst im Rollstuhl sitzen. Und ich bin nur deshalb heute in London, weil der Vater mit Durchfall auf dem Klo saß und die Familie dadurch verspätet aufbrach. Verdanke mein Leben womöglich einem Stück verdorbenen Fisch … Oder es hätte mich nur zufällig ein Kollege sehen müssen beim Drogenkauf im Schanzenviertel.
Das Heroin. Ich spritzte es nicht, ich rauchte es. Ich bildete mir ein, es im Griff zu haben. Höchstens einmal die Woche – daran hielt ich mich. Meistens. Aber wie ich diesen Abenden entgegenfieberte. Wie die Vorfreude darauf alles andere überschattete. Keine körperliche Sucht, nie habe ich irgendwelche Entzugserscheinungen gespürt, aber solche Sehnsucht, so ein Verlangen nach diesem Zustand völliger Entrücktheit. Sonst gab es ja nichts Erfreuliches in meinem Leben. An der NDR-Pforte überfiel mich jeden Morgen die Panik. Dasselbe Gefühl wie vor dem Zusammenbruch. Ein Déja-vu. Sehr vertraut und beängstigend. Aber meine Schicht war um vier zu Ende, dann konnte ich Caren in der Schanze treffen und ich gab ihr Geld, um Stoff zu kaufen, und aller Ärger fiel ab von mir, während ich gespannt auf ihre Rückkehr wartete. Wir sprachen kein Wort, während wir durch den Hamburger Hafen zu meinem Schiff fuhren. Hörten laute Musik und waren bester Laune. Gierig schaute ich ihr zu, wie sie das kleine Päckchen mit dem braunen Pulver oder den weißen Kristallen öffnete. Einmal hatte uns
einer reingelegt. Für 100 Mark Sand verkauft. Ich war so niedergeschmettert, enttäuscht und voller Wut und Hass – ich fand keine passenden Worte dafür. Betrogen um meinen Abend. Ganz tief den beißend-süßen Rauch in die Lungen saugen und – whom, du schwebst. Einmal in der Woche ging ich noch zur Therapie. Es ist schon erstaunlich, auf wie vielen Ebenen ich unterwegs war. Mich nicht im Geringsten scherte um Zusammenhänge. Meine Rollen spielte.
Eines Nachmittags rief die Reaktion mich auf dem Heimweg an. In meiner Nachbarschaft sei ein Mietshaus eingestürzt und ob ich per Handy eine kurze Reportage machen könnte. Ich hatte aus Kriegen berichtet, aber jetzt spürte ich Panik in mir aufsteigen. Als ich dann zwischen den zuckenden Blaulichtern, Feuerwehrmännern, ratlosen Anwohnern und kreischenden Flexen stand und in all dem Chaos das Wesentliche überblickte, merkte ich: Ich kann es noch. Die alten Reporterinstinkte funktionieren. Mir stand der Schweiß auf der Stirn und ich war nervös bis zum Gehtnichtmehr – aber ich habe diese
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