"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
kann ich mir das kaum glauben. Ich möchte mir die Bettdecke über den Kopf ziehen und still vor mich hin weinen. Den Frühsport schwänzen und mich krankmelden und einfach liegen bleiben. Doch wenn ich das einmal einreißen ließe, wäre ich nach drei Wochen wieder da, wo ich an meinem Geburtstag war.
Trauer, Zweifel und Einsamkeit gehören zum Leben dazu.
Es ist das dritte Mal, dass ich so scheinbar grundlos in die Schwermut rutsche. Drei Abende in zwei Wochen. Aber sie sind auch vorbeigegangen. Vielleicht gehört das zum Leben einfach dazu: Trauer, Zweifel, Einsamkeit. Denk mal an den Doktor Faust. An Dorian Gray. Beethoven. Die haben alle dieselben miesen Nächte durchgemacht. Ich muss da einfach irgendwie durch. Es aushalten. Auch diese Nacht wird mich nicht umbringen. Und natürlich werde ich mich nach langen schlaflosen
Stunden fruchtlosen Grübelns auch morgen früh wieder ins Fitnessstudio schleppen. Und mich hinterher besser fühlen. Ich bin nicht ausgeliefert.
Tag 14 – Der Sparkommissar
Das Leben ist nicht zu kurz. Die meisten Leute empfinden das nur deshalb so, weil sie nicht wirklich leben – sondern Zeit verbringen. Das hat der römische Dichter Seneca geschrieben. Ich lese an diesem trüben verregneten Sonntagmorgen sein Von der Kürze des Lebens im Bett. Einen Essay würde man das heute wohl nennen. Es ist faszinierend, dass sich da vor über 2000 Jahren ein Mensch dieselben Gedanken gemacht hat wie ich heute. Über die Liebe, die Angst vor Verlust, vor dem Alter und dem Tod. Die Frage nach dem Sinn. Senecca kommt zu dem Schluss, dass die meisten Leute den falschen Zielen hinterherrennen und darüber das echte Leben verpassen. Dass es falsche Ziele sind, erkenne man in der Todesstunde: Weil sie alles Geld, Ruhm und Macht leichten Herzens hergeben würden für ein einziges weiteres Jahr Leben. Seneca hat übrigens Selbstmord begangen.
Ich finde Senecas Argumente jedenfalls sehr schlüssig. Aber ich schätze, der Drillsergeant akzeptiert sie nicht als Ausrede. Ich muss zu Ende zu bringen, was ich gestern begonnen habe. Ich stärke mich mit einer Grapefruit und Kräutertee, lese gründlich die Sonntagszeitungen und fahre mit der U-Bahn ins Fitnessstudio, um mich für die Herausforderung fit zu machen. Nachdem ich die Reste meiner exzellenten Pappa al Pomodoro – eines sizilianischen Tomaten-Brot-Eintopfes – gegessen habe, prüfe ich, ob ich den Faust noch kann. An zwei Stellen weiß
ich nicht mehr weiter, schlage nach, rezitiere das Ganze noch zweimal am Stück, um es mir einzuprägen. Dann entwickele ich mit meinem Sohn am Telefon die Weltraum-Eichhörnchen weiter: Ein Schurke hat ein raffiniertes Komplott geplant gegen die Internationale Nagetierföderation. Unsere drei Helden von Team Eichhörnchen kommen mit ihrem Nussmobil zum Einsatz – bis Leos Mutter die spannende Story mit dem Abendessen beendet. Ich telefoniere lange mit meiner Mutter, bis meine Eltern Tatort schauen wollen. Das Unvermeidliche lässt sich nicht länger herausschieben.
Ein Schuhkarton, große Version für Stiefel, steht vor mir. Randvoll mit Papier. Steuerformulare, Briefe, Notizen, Quittungen, Flugtickets usw. Zwei Jahre lang habe ich den Termin für die Steuererklärung verbaselt – und dadurch schätzungsweise 4000 Pfund Rückzahlung verschenkt. Plus 300 Pfund Strafe. Meine Güte, so schwer kann’s doch wirklich nicht sein, einfach mal seine Unterlagen so weit zu ordnen, dass ich sie einem Steuerberater übergeben kann! Während ich systematisch und schlecht gelaunt meinen Karton durcharbeite, fällt mir ein weiteres Dutzend Dinge ein, die dringend noch erledigt werden müssen: Eine Maschine Wäsche waschen, den Kühlschrank sauber machen, eine Mail an meinen Freund Paul schreiben, ein Bad nehmen. Aber um kurz nach Mitternacht habe ich es tatsächlich geschafft, die komplette Steuererklärung ohne fremde Hilfe zu vollenden. Weil es sich als sehr viel weniger kompliziert herausgestellt hat als in Deutschland und das Formular relativ idiotensicher ist. Ich kann meine Heimflüge und Mietnebenkosten absetzen und sonst nichts. Muss ein paar
Zahlen eintragen und Kästchen ankreuzen, das Ganze in den großen braunen Rücksendeumschlag stecken – und auf den Scheck vom Finanzamt über 3421 Pfund warten.
Tag 15 – Klasse statt Masse
»Es geht nichts über unsere Klassiker«, schreibt Feinschmeckerpapst Wolfram Siebeck »Was Schiller für den Germanisten, ist das Huhn für den Feinschmecker. Fasane, Rebhühner,
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