Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Senzel
Vom Netzwerk:
im Internet nach Schnäppchen zu jagen. Beschere mir ein nimmer endendes Weihnachtsfest, einen ständigen Strom Pakete von Ebay oder Amazon, Elektronik- oder Modeversandhäusern. Teilweise sind meine Daten schon gespeichert, sodass ich nicht einmal mehr Adresse und Kreditkartennummer eingeben muss. Kennwort reicht – und wenige Tage später bringt der Postbote ein neues Paket. Genial. Bei größeren Anschaffungen frage ich mich durchaus »Muss das sein?«
oder »Brauche ich das wirklich?«. Bis ich nach spätestens drei Tagen genug Gründe gesammelt habe, warum es trotz Ebbe in der Kasse vernünftig ist, das neue Powerbook zu kaufen. Jetzt ärgere ich mich über das 1200 Pfund große Loch, dass meine Kauflust in mein Konto gerissen hat.
    So ist das oft, wenn ich etwas unbedingt haben muss und es gar nicht erwarten kann, den Karton aufzureißen. Nur ganz selten überdauert die Begehrlichkeit den Zeitpunkt der Bescherung allzu lange. Letztlich ist auch ein Apple nur ein Computer, und meine Texte werden damit nicht besser. Natürlich ist er cooler. Aber irgendwie bin ich immer noch ein 47-jähriger fest angestellter Redakteur mit Pensionsberechtigung. Ich habe keinerlei Reserven, null Spielraum für Unvorhergesehenes und bin darauf angewiesen, dass die Dinge irgendwie funktionieren. Die Hypothek für mein Haus in Hamburg trägt sich durch die Miete. Aber wenn ein Sturm das Dach abdeckt oder die Heizung den Geist aufgibt, muss ich mich weiter verschulden. Dabei könnte ich längst Millionär sein, wenn ich das viele Geld, das ich als freier Mitarbeiter verdient habe, gut angelegt hätte. Aber »Tante Hätte« liegt bekanntlich auf dem Olsdorfer Friedhof. Direkt neben »Onkel Wäre«, und ich habe beide wirklich lange genug beweint, lassen wir sie also in Frieden ruhen.
    Vier Wochen Ausgabensperre. Und ich werde künftig alle Muss-ich-jetzt-und-sofort-unbedingt-haben-Dinge auf eine Wunschliste schreiben und mindestens einen Monat reifen lassen, bevor ich sie aus meinen Überschüssen bediene. Ich bin überzeugt, dass sich vieles in dieser Zeit von selbst erledigen wird.

    Meine Kontoauszüge nach Sparpotenzialen zu durchforsten, erweist sich als nicht ganz unkompliziert, weil ich sie nur sporadisch aufgehoben habe. Die meisten stecken noch in verschlossenen Umschlägen. Die britische Telekom ist ein fetter Brocken, weil ich oft und lange nach Deutschland telefoniere – allein die Gutenachtgeschichten mit meinem Sohn dauern mitunter Stunden. Es sagt eine Menge über mein Wesen aus, dass ich die Entdeckung von Billigvorwahlen nach zwei Jahren im Ausland als Geniestreich feiere. 150 Pfund Ersparnis jeden Monat, rechne das mal auf die letzten zwei Jahre hoch! Nein, nicht ärgern jetzt! Wo liegt »Tante Hätte«?
    Ein Internetanbieter, den ich seit ewig und drei Tagen nicht mehr nutze. Kündigung tippen, ausdrucken, Adresse auf Umschlag schreiben, Briefmarken suchen – was für ein Aufwand wegen 9 Euro im Monat. Meine Laune sinkt, ich bin eindeutig nicht zum Buchhalter geschaffen. 120 Euro im Jahr für ein Bankschließfach, das seit der Jahrtausendwende leer steht. Um zu kündigen, müsste ich die Schlüssel zurückgeben, aber die sind natürlich längst verloren. Scheiß drauf, das macht den Kohl auch nicht fett, mir reicht es sowieso für heute. »Wer den Pfennig nicht ehrt …« Ach, Oma, halt einfach den Mund. Du hast am Streichholz gespart, ich weiß. Und in deiner Jugend gab es kein Radio, kein Fernsehen, kein Internet. Plumpsklo auf dem Hof, Waschtag mit Zuber. Und als der Dorfarzt mit dem ersten Auto ankam, haben die alten Frauen sich nicht mehr einkriegen können über die Kutsche ohne Pferde.
    Was habt ihr so gemacht an all den langen Abenden in Schotten im Vogelsberg? Ich langweile mich tödlich, der
Abend gleitet mal wieder in Trübsinn ab. Ich hänge voller Unruhe im Sessel und stiere die Digitaluhr auf dem Fensterbrett an. Es dauert ewig, bis die Minuten umspringen. Draußen rauscht der Londoner Verkehr, Ambulanz- und Polizeisirenen jaulen, Betrunkene grölen. Aber hier drinnen fühlt es sich geradezu unheimlich still an. Schwermut, Einsamkeit, Verzweiflung – altbekannte und verhasste Besucher stellen sich ein. Brauchen keinen Grund, mich zu überfallen – aber werden irgendwann auch wieder gehen. Ich bin einfach nur schlecht gelaunt, das geht vorbei, ich habe alles im Griff und mein Leben läuft rund. Tut es das? So müde, kraftlos, traurig und dabei so entsetzlich angespannt, wie ich mich gerade fühle,

Weitere Kostenlose Bücher