Artefakt
Doch das Bild von der Zukunft, so strahlend, bunt und prächtig es von Caina aus betrachtet auch gewesen sein mochte, verlor etwas von seinen Farben, als er auf dem Sicherheitsnetz saß, dem Summen der Rosenduft lauschte – die überhaupt nicht nach Rosen roch – und versuchte, seinen Platz in dieser neuen Realität zu bestimmen. Derzeit beschränkte sich die neue Welt auf das Raumschiff eines Schmugglers, und er fühlte sich fremd darin, wie ein Eindringling, der nach einem Platz für sich suchte. Eine richtige Welt – der Mond eines Gasriesen wie Caina oder ein ganzer Planet – war viel größer, und Rahil befürchtete plötzlich, dass dort alles noch fremdartiger sein würde.
Dies ist der erste Schritt, dachte er und versuchte sich selbst zu beruhigen. Der erste von vielen, und vielleicht der schwerste.
Jazmine war eingeschlafen. Rahil lehnte sich an die Wand, schloss die Augen und dachte daran, wie Coltan Jaqiello Tennerit reagieren mochte, wenn er merkte, dass Sohn und Tochter verschwunden waren. Selbst wenn er überall nach ihnen suchen ließ, und selbst wenn es ihm gelang, jemanden zur Ägide zu schicken, um dort nach ihnen Ausschau zu halten … Zwei Jahre würden vergangen sein, wenn sie Greenrose erreichten, und bis dahin glaubte ihr Vater vermutlich, dass sie irgendwo einem Unfall zum Opfer gefallen waren.
Rahil fragte sich, ob er um sie trauern würde.
Ein Wimmern weckte ihn fast zwei Stunden später. Erschrocken beugte er sich vor, so abrupt, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte, weil das Netz unter ihm zu schaukeln begann. »Jaz?«
Rote Flecken hatten sich in ihrem Gesicht gebildet, und Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. Rahil fasste sie vorsichtig an den Schultern. »Jaz?«
Sie zitterte am ganzen Leib und wimmerte erneut, erwachte aber nicht. Die Lider blieben geschlossen, die Augen darunter in Bewegung. Ich habe geschlafen, dachte Rahil. Ich habe geschlafen, während es meiner Schwester immer schlechter ging.
Sie würde sich nicht von allein erholen. Er hatte wertvolle Zeit vergeudet. Jaz brauchte Hilfe.
Rahil lief in den Gang und machte sich auf die Suche nach Magda und Magdalena.
Das Innere des Schiffes hatte sich verändert. Überall waren Materialgedächtnisse – Formspeicher – aktiv geworden und hatten der Rosenduft eine wabenartige Struktur verliehen. Rahil kam sich wie in einem Irrgarten vor, und nachdem er fünf oder sechs kleine Kammern durchquert hatte, verlor er die Orientierung. Das Schiff blieb nicht statisch. Es veränderte sich noch immer, schuf neue Wände dort, wo eben noch Türen gewesen waren, ließ kleine Öffnungen entstehen, durch die sich Rahil mit Mühe und Not zwängte, ließ aus Wänden Geräteblöcke und andere Objekte wachsen, deren Zweck Rahil verborgen blieb.
»Uns trennen nur noch einige Minuten vom Sprung«, ertönte eine Stimme aus dem Nichts, als Rahil ein kleines Loch hinter sich gebracht hatte und vor einem grauschwarzen Aggregat verharrte, das aus mehreren Segmenten bestand, die sich langsam ineinanderschoben. »Habt ihr gehört? Damit meine ich unsere beiden Passagiere. Ich kenne nicht einmal eure Namen … Wenn ihr noch nicht in den Netzen liegt, so kriecht jetzt hinein.«
»Hilfe!«, rief Rahil. »Ich brauche Hilfe! Meiner Schwester geht es sehr schlecht!«
»Habe ich dir nicht gesagt, dass du dich an die beiden Zicken wenden sollst?«, antwortete die körperlose Stimme.
Rahil klopfte an die Wand. Das kleine Loch war zugewachsen, und es gab keine andere Öffnung. Immer weniger Licht kam von der Decke.
»Lassen Sie mich hier raus, Duartes!«, rief er. »Zeigen Sie mir den Weg.«
Für einige Sekunden war nur das Summen des Schiffes zu hören.
»Du kennst meinen Namen, Junge? Das finde ich erstaunlich, denn ich kann mich nicht daran erinnern, ihn dir genannt zu haben.«
»Meine Schwester braucht dringend Hilfe!« Rahil klopfte erneut an die Wand.
»Mein Junge, ich schätze, du wirst mir noch die eine oder andere Frage beantworten müssen«, ertönte Duartes’ Stimme. Die Wand vor Rahil klappte auseinander, und ein Licht erschien vor ihm, kaum größer als ein glänzender Punkt, tanzte durch einen dunklen Gang, in dem zylindrische Komponenten und Stangengeflechte auseinanderrückten. »Folge dem Licht. Es bringt dich zu Magda und Magdalena.«
Rahil sprang durch den Gang.
Ein dumpfes Grollen kam aus dem Teil des Schiffes, den er für das Heck hielt, und Duartes verkündete: »Ich versuche, den Sprung hinauszuzögern, Junge, aber
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