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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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die Kursdaten sind programmiert, und die Maint meiner guten alten Rosenduft verhindert alles, was das Schiff in Gefahr bringen könnte. Wir sind bereits im Vektor, und wenn wir das Sprungmanöver jetzt abbrechen, riskieren wir unsere strukturelle Integrität. Falls dir das was sagt.«
    Rahil folgte dem Licht um eine Ecke und sah sich einer runden Kabine gegenüber, in perlmuttartig schimmerndes Licht getaucht, das aus den Wänden kam. Die Tür stand halb offen, und Rahil riss sie ganz auf.
    »Bitte, Sie müssen kommen, sofort!«, rief er. »Meine Schwester ist sehr krank!«
    »Noch zwei Minuten, Junge«, warnte Duartes. »Die Initialsequenz läuft, und jetzt gibt es kein Zurück mehr. Setz dich irgendwohin. Warte, ich versuche eine Sitzgelegenheit für dich zu schaffen.«
    Aus der nahen Wand wuchs etwas, das wie ein Stuhl aussah, aber Rahil achtete nicht darauf, stand noch immer in der Tür der runden Kabine und beobachtete die beiden Kzosek-Frauen. Sie steckten in durchsichtigen Kokons, die in halber Höhe schwebten und über nabelschnurartige Stränge mit den Wänden verbunden waren. Die Arme hatten sie sich auf die Brust gelegt und die Augen geschlossen.
    »Magda, Magdalena, ich brauche Ihre Hilfe«, brachte Rahil hervor. »Meine Schwester …«
    Etwas zog an seinen Gedanken. So fühlte es sich an: wie eine Hand, die ihm von hinten in den Kopf griff und an seinen Gedanken zog.
    Eine der beiden Kzosek-Frauen öffnete die Augen und sagte etwas mit ihrer quietschenden Stimme, von der Membran des Kokons gedämpft.
    »Noch eine Minute, Junge. Setz dich. Halt dich irgendwo fest. Der erste Sprung ist sehr unangenehm, hörst du? Du kannst jetzt nichts mehr für deine Schwester tun.«
    »Magda und Magdalena«, sagte er. »Sie haben sich … eingesponnen. Wie Insekten.«
    »Die beiden Zicken sind keine Menschen. Darüber haben wir schon gesprochen, erinnerst du dich? Beim Sprung ziehen sie sich in ihre Kokons zurück und schlafen. Dreißig Sekunden, Junge. Halt dich irgendwo fest! «
    Für einen Moment glaubte Rahil, hinter der Stimme des Händlers einen seltsamen Gesang zu hören, leise Töne, die direkt zu Herz und Seele sprachen. Aber dann kam wieder die Hand, die nach seinen Gedanken griff, und diesmal blieb sie in seinem Kopf, streckte Finger durch die Gehirnwindungen, bis hin zu den Augen.
    Rahil drehte sich um und wankte zu dem Stuhl, der aus der Wand gewachsen war. Auf halbem Weg dorthin sprang die Rosenduft durch den Vektor, und Rahil fiel durch Raum und Zeit.
    Schwerelos schwebte er in dem schmalen Gang, einige Meter vor dem Stuhl und den Haltevorrichtungen daran, gerade so weit davon entfernt, dass er sie mit ausgestreckten Armen nicht erreichen konnte. Es gab keine Gravitation mehr an Bord, und so fiel er, während er reglos schwebte, stürzte zusammen mit dem Schiff in eine Kluft zwischen den Dimensionen. Für einige Sekunden war ihm so kalt, dass er fröstelte, und dann kam eine Hitze, die ihm Schweiß aus den Poren trieb. Schließlich kehrte ein Teil der Schwerkraft zurück, und er sank dem Boden entgegen, fühlte ihn kurz darauf unter den Füßen und beobachtete, wie die Welt zerriss.
    Überall um ihn herum bildeten sich haarfeine Linien, im synthetischen Metall der Wände ebenso wie in den Polymer-strukturen der Waben, die das ganze Schiff durchzogen und ihm während des Sprungs zusätzliche strukturelle Stabilität gaben. Von diesen Linien gingen weitere Linien aus, begleitet von einem Knistern und Kratzen wie von tausend Messern, die das ganze Schiff zerschnitten. Es regte sich keine Furcht in Rahil – er wurde nicht einmal unruhig –, als er an sich hinabblickte und feststellte, dass die Messer auch ihn selbst zerstückelten, in einzelne Teile, die immer kleiner und kleiner wurden. Schließlich lösten sie sich von ihm, ohne dass Blut floss. Die Fragmente seines Leibs gerieten in Bewegung, wie von dem Wunsch erfüllt, sich voneinander zu trennen. Aber die Loslösung war nicht komplett, denn es gab Fäden zwischen den vielen winzigen Teilen, hauchdünne Linien, viel dünner als ein Haar, und sie leuchteten, wenn er den Blick auf sie richtete.
    Rahil begriff: Das Schiff, und er mit ihm – alles an Bord – zerfiel in seine existenziellen Teile, in seine fraktalen Komponenten, in individuelle repetitive Muster, die seine Existenz als Ganzes begründeten. Und die bunten Linien, die für ihn leuchteten … Es waren fraktale Strings, eingebettet in die 10 500 möglichen Aufwicklungen der sieben

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