Artefakt
Tennerit, der das Bündnis mit den Polymorphen von Heraklon geschlossen hatte. Nach einem Grab suchte Rahil vergeblich.
Zwischen den Gräbern wuchs sprödes Gras, das wie Glas klirrte und zerbrach, wenn er darauftrat. Manchmal glaubte er, dass ein leichter Wind wehte, aber wenn er die Hand hob, um ihn zu fühlen, oder wenn er ihm das Gesicht zuwandte, regte sich nichts mehr. Er ging an den Gräbern entlang, beobachtete die Grabsteine und stellte fest, dass die Namen auf ihnen immer undeutlicher wurden, bis er keine Buchstaben mehr erkennen konnte, bis die weißen Steine völlig glatt waren. Schließlich erreichte er die Mauer und sah an ihr empor zum grauen Himmel, an dem sich nicht eine Wolke zeigte.
Ich bin im Innern des Artefakts, dachte er und lauschte der Stille.
»Ich bin im Innern des Artefakts!«, rief er, drehte sich um und sah zum Gebäude, das aus zahllosen kantigen Elementen bestand, wie eine Ansammlung riesiger schwarzer Kristalle. Der Anblick erinnerte Rahil an etwas, aber die Erinnerungen blieben verschwommen, und das war ein Problem, denn es bedeutete vermutlich, dass seine Denkprozesse beeinträchtigt waren. »Hört mich jemand?«
Einige Sekunden lang blieb alles still, und dann kam ein Kreischen aus der Ferne, das aber vielleicht nur Einbildung war. Auch das fand Rahil problematisch, denn es bedeutete, dass er seinen Sinnen nicht trauen konnte.
Er befand sich im Innern des Artefakts und war der Person begegnet, deren Präsenz er gespürt hatte, der Frau, die er kannte, deren Namen er aber nicht zu nennen wagte, weil zu großer Schmerz damit verbunden war. Was er wahrzunehmen glaubte, war das Bild, das sein Gehirn von einer völlig fremden Wirklichkeit schuf. Rahil zweifelte kaum daran, dass das dunkle Gebäude mit den vielen Fluren und Zimmern in dieser Form gar nicht existierte. Als ausgebildete Schmiedin, die sich mit polychromen Schmieden auskannte, hätte Thresa vermutlich etwas ganz anderes gesehen. Diese »Realität« war der Versuch seines Gehirns, ihm etwas Vertrautes zu zeigen, das eine Orientierung ermöglichte. Es war die symbolische Transkription einer Meta-Wirklichkeit, und wenn es ihm gelang, die Bedeutung der Symbole zu erkennen … Was dann? Wie sollte er etwas unter Kontrolle bringen, das er nicht verstand? Während er hier an der hohen Mauer stand und sich den Friedhof ansah, nahm das Artefakt Energie auf und verwandelte die Materie des Planeten Heraklon in Basismasse. Er wusste nicht, wie viel Zeit verging, während er an diesem Ort stand und diese Gedanken dachte. Vielleicht waren außerhalb des Artefakts bereits zehn oder hundert Jahre verstrichen. Vielleicht existierte Heraklon gar nicht mehr. Vielleicht hatten die Hohen Mächte längst ihre Entscheidung getroffen und beschlossen, der unreifen Menschheit keinen Zugang zur Kosmischen Enzyklopädie zu gewähren.
Andere Gedanken stiegen in ihm auf, wirr und konfus, und drängten sich in seinem Kopf zusammen, bis der Platz darin knapp wurde und der Druck wuchs, bis er glaubte, ihm könnte jeden Augenblick der Schädel platzen. Rahil hob die Hände, drückte sie an die Schläfen und schrie, und als er hörte, wie sehr der Schrei dem Kreischen seiner Schwester ähnelte, erschrak er zutiefst.
Seine Schwester. Da war er, der eine Gedanke, den zu denken er bisher nicht gewagt hatte.
* * *
»Jazmine«, krächzte Rahil und richtete die Worte an die beiden grauen Augen, die ihn beobachteten. Der Biomorph in seinem Nacken schien zu brennen. Er wollte danach greifen, aber starke Hände hielten ihn fest. In der Nähe lag die Telepathin Delana, mit Schaum vor dem Mund und die Augen so verdreht, dass sie nur noch das Weiße zeigten. Der Mann von der Ägide, Joyce, versuchte gerade, sie mit einem medizinischen Multifunktionshelper zu behandeln.
»Sie hat einen Schock erlitten«, sagte er. »Rahil hat sie aus seinem Bewusstsein geworfen.«
Der Mann mit den grauen Augen nickte zufrieden. »Die Erinnerungen beginnen zu wirken.«
»Ich habe sie sterben sehen«, brachte Rahil hervor. Einige Meter entfernt trafen die anderen Männer Vorbereitungen für den Start eines modernen Atmosphärenwagens, eines Clippers. Einer von ihnen war verletzt und trug einen bioaktiven Verband an der Schulter. »An Bord der Rosenduft. Wie kann sie in dem Artefakt sein?«
»Jetzt weißt du, wen das Schiff, mit dem vor siebenundachtzig Jahren der neue Botschafter des Dutzends nach Heraklon kam, in die Arktis von Heraklon brachte«, sagte Coltan Jaqiello.
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