Artefakt
»Wenn du damals nicht so dumm gewesen wärst, Caina zusammen mit deiner Schwester zu verlassen … dann wäre uns dies alles erspart geblieben.«
»Wie kann Jazmine lebendig sein?«, stöhnte Rahil.
»Es ist nicht die Jazmine, die du kennst«, erwiderte sein Vater. »Es ist eine andere mit vielen Mängeln, angefangen bei ihren Erinnerungen. Leider stand uns nur ein unvollständiges und noch dazu fehlerhaftes Image zur Verfügung. Und es war außerordentlich schwierig, die genetischen Veränderungen in einem Uterus zu wiederholen. Sie ließen sich viel einfacher bewerkstelligen, als ihr im Leib eurer Mutter herangewachsen seid. Wir brauchten einen guten Schmied, aber gute Schmiede sind nicht einfach zu bekommen. Genau da liegt ja das Problem, nicht wahr, mein Junge?«
Rahil versuchte zu verstehen. Er wollte etwas fragen, aber sein Vater legte ihm, überraschend sanft, die Hand auf den Mund. »Unterbrich den Strom der Erinnerungen nicht. Du bist jetzt bei der entscheidenden Stelle, mein Sohn.«
Eine Tür öffnete sich, und aus dem Augenwinkel sah Rahil, wie jemand den Raum betrat. Ihm fiel ein, dass sein Vater ein Depot erwähnt hatte, als sie Couron erreicht hatten. Inzwischen mussten sie sich in der Stadt befinden.
»Es ist alles vorbereitet, Sire«, sagte der Mann. »Wir haben einen Kilometer von hier entfernt bei der Botschaft von Larralde eine Datenbombe platziert. Ihre Explosion sollte die Akkumulatoren der Segler ein oder zwei Minuten lang beschäftigt halten. Genug Zeit für uns, um zu starten und die Stadt zu verlassen.«
Die Segler, dachte Rahil, als ihn sein Vater und Joyce zum Clipper führten. Die Gefallenen Welten, die um das Artefakt streiten. Der Krieg ist nach Heraklon gekommen; wir konnten es nicht verhindern.
Ich konnte es nicht verhindern.
Er saß im Wagen, der aufstieg, als sich im Dach des Depots eine Öffnung bildete. Kurze Zeit später flogen sie durch das Gespinst aus Akkumulatoren und Integratoren, das die Segler auf der Suche nach Datennetzen über eine Stadt gelegt hatten, die, einst hell und heiß, von grauer Düsternis heimgesucht in Schnee und Eis erstarrt war.
Coltan drückte ihm den Biomorph etwas fester an den Nacken. »Erinnere dich, mein Sohn. Erinnere dich an den Rest.«
Jazmine, dachte Rahil.
* * *
»Du hast geschlafen«, sagte Rahil. »Ich habe dich geweckt, als ich zum ersten Mal hierhergekommen bin.«
Sie saßen im »Kartenzimmer«, wie die kahlköpfige Frau mit den Narben – Jazmine – es nannte. Hier zeigten die Wände nicht das dunkle Grau wie in den anderen Zimmern, sondern ein schmutziges Weiß, durchzogen von zahllosen Linien, wie die Darstellungen von Straßen und Flüssen. Etwas dunklere Kleckse gaben vielleicht Städte oder Berge wieder. Es ist unsere Phantasie, die uns so etwas sehen lässt. Wir sehen, was wir sehen wollen. Um sich zu beweisen, dass er recht hatte, stellte er sich die Linien wie Adern und Venen vor, und die Kleckse als Organe eines Wesens aus Stein. Er musste sich nicht einmal sehr bemühen, um Gliedmaßen zu erkennen.
Der Schein trügt, erinnerte er sich an wichtige Worte, gesprochen von einem Gesserat. Vielleicht war das die Botschaft, die sich hier verbarg. Vielleicht musste man hinter das blicken, was man sehen wollte, um die Wahrheit zu erkennen.
»Ich weiß, wer du bist«, sagte Jazmine. »Glaub nur nicht, ich wüsste nicht, wer du bist.«
In den letzten Tagen und Wochen hatte Rahil gelernt, verschiedene Verhaltensmuster bei seiner Schwester voneinander zu unterscheiden. Der Zorn brannte immer in ihr, aber manchmal waren seine Flammen klein und ließen Platz für Schwermut, Neugier und, bei seltenen Gelegenheiten, schrägen Humor. Manchmal jedoch genügte ein falsches Wort, unbedacht gesprochen, und aus den kleinen Flammen wurde ein großes Feuer, in dem die Reste von Rationalität zu Asche zerfielen.
»Ich bin dein Bruder«, sagte Rahil vorsichtig.
»Du bist es, und du bist es nicht«, erwiderte Jazmine. Ihre Hände bewegten sich, als wollten sie nach einem langen Zopf greifen und sich daran festhalten. »Eigentlich habe ich keinen Bruder. Ich habe niemanden. Ich bin ganz allein. Abgesehen von den Stimmen.«
Das war ein weiterer Hinweis. Rahil nahm ihn zur Kenntnis.
»Was ist passiert?«, fragte er sanft. »Wie bist du hierhergekommen?«
Sie saßen an einem steinernen Tisch, umgeben von mattem grauem Licht wie von einer ewigen Dämmerung, und Rahil versuchte, sich nicht von den Linien ablenken zu lassen, die langsam durch
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