Artefakt
Raumschiffe zeigten, die noch immer im Sprungsektor des Otiz-Systems auf einen günstigen Vektor für den Sprung warteten. Eingeblendete Grafiken und Datenkolonnen wiesen jedoch darauf hin, dass es noch etwas anderes im Otiz-System gab, nicht weiter als eine halbe Lichtminute von Kedra entfernt, mit einer Masse von 10 23 kg, was der eines Mondes mit einem Durchmesser von fast fünftausend Kilometern entsprach.
»Welche Ehre für uns«, sagte Lucrezia. »Wir sind tiefste Provinz und bekommen doch Besuch von den Hohen Mächten. Dort erscheint eine Polis. Gleich müsste die Kompensation erfolgen.« Als hätte sie damit das Stichwort gegeben, hörte das Zittern auf. »Na bitte.«
Das Bett war inzwischen auf den Boden des immer noch halbdunklen Zimmers gesunken. Rahil stand auf und griff nach seiner Kleidung.
»Auf dem Weg hierher bin ich verfolgt worden«, sagte er schnell und warf sich vor, wertvolle Zeit vergeudet zu haben. Welcher Teufel hatte ihn geritten und dazu gebracht, seine Mission aus den Augen zu verlieren? Er warf einen Blick auf die Chrono-Anzeigen, als er hastig Hemd und Hose überstreifte – es war gewöhnliche Kleidung, keine Rüstung mit aktiviertem Formspeicher. Drei Stunden hatte er geschlafen; der Diagnoser musste die Untersuchung der Rüstung inzwischen beendet haben. Sammaccan fiel ihm ein. Befand er sich noch im Schulungszimmer des alten Industrieparks, wo er ihn zurückgelassen hatte? »Von einem Schiff, das sich tarnte und von den Hohen Mächten stammen könnte. Es setzte einen Disruptor ein, um mich daran zu hindern, Heraklon zu erreichen. Vielleicht bedeutet das Erscheinen der Polis, dass auch der Verfolger eingetroffen ist. Ich muss so schnell wie möglich aufbrechen.«
Er hatte so hastig gesprochen, dass die einzelnen Worte ineinander übergingen, aber Lucrezia verstand. Sie saß noch immer auf dem Bett, ihre Brüste schwer und schlaff, die Seiten eine gerade Linie, ohne die schmale Taille, die er einst bewundert hatte, Gesicht und Oberkörper voller Falten, der Rücken ein wenig gebeugt. »Heraklon«, sagte sie. »Darum geht es also. Wirst du mutig genug sein, dort von deinen Exekutor-Privilegien Gebrauch zu machen?«
»Das kann ich nur, wenn mich niemand daran hindert, den Planeten zu erreichen.«
Lucrezia griff nach ihrer eigenen Kleidung. »Da ist sie«, sagte sie und deutete auf die Wand vor ihnen. »Die Sternenstadt der Hohen Mächte.«
Wo eben ein Flirren gewesen war, wie von einem Schatten, der sich vor dem schwarzen Hintergrund des Alls bewegte und dabei das Licht einiger ferner Sterne schluckte, erschien plötzlich etwas, das auf den ersten Blick wie eine aus dem Leib eines Planeten gerissene Stadt aussah. Türme, Kuppeln, Polyeder und Gebilde, die wie kristallene Finger und Dorne aussahen, ragten aus einer »oben« flachen, siebenhundert Kilometer durchmessenden Scholle, die aus exotischer Materie bestand, wie die eingeblendeten Datenkolonnen Rahil mitteilten. Unter dieser Scholle orteten die Sensoren des Habitats und der Satelliten in hohen Umlaufbahnen über Kedra poröses Material, wie von Felsen und Gestein durchsetzter lehmiger Boden, aus dem Hunderte von Strängen und Faserbündeln nach »unten« reichten wie aus tiefem Erdreich gerissene Wurzeln. Rahil wusste, dass sie die Vakuumenergie der Raumzeit anzapften und Dunkle Materie konvertierten. Einige Wissenschaftler der Ägide vermuteten, dass diese pseudopodien- oder wurzelartigen Erweiterungen auch dazu bestimmt waren, Dunkle Energie aufzunehmen und sie für den Transit der Polis einzusetzen. Wenn das stimmte, benutzten die Hohen Mächte die beschleunigte Ausdehnung des Raums für die Bewegung ihrer Sternenstädte.
Von den zahlreichen Bauten der Polis, zwischen denen sich Brücken und Bögen spannten, stiegen glühende Punkte auf. Manche glitzerten und gleißten, wenn sie den höchsten Punkt ihrer Flugbahn erreichten, und platzten wie Feuerwerkskörper. Andere verwandelten sich in Satelliten der Polis, schwebten über und unter ihr. Wieder andere flogen funkelnd dem Planeten entgegen, umkreisten ihn innerhalb weniger Sekunden und kehrten zurück, wobei sie in der Nähe des alten Habitats kurz langsamer wurden, als wollten sie einen Blick darauf werfen.
»Wir sehen nicht die ganze Stadt«, sagte Rahil, während sich Lucrezia anzog. »Nur ein Teil von ihr ist hier. Siehst du?« Er deutete auf eine Stelle über der Polis, wo sich eine dunkle Linie zeigte, wie ein Haarriss im Weltall. Man bemerkte sie nur, wenn man
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