Artefakt
kommen. Ohne irgendein Gefühl von Erwartung zog er sich um. Körperertüchtigung in der eisigen Umklammerung des Winters war eine Willensanstrengung, eine Stärkung des moralischen Charakters. Die Muskeln spannten und streckten sich unwillig, und der Schweiß verdunstete, hinterließ einen prickelnden salzigen Überzug. Er lief unter dem starren Blick der Panoramafenster der Beacon Street den Fluß entlang. Der Himmel war kobaltblau, und sein Atem machte große Wolken, als er die schwarzgeteerten Pfade der Esplanade entlangtrabte, die Augen glasig, im Kopf ziellos durcheinandertreibende mathematische Formeln.
So gern er mit Zaninetti arbeitete, er war auf der Hut. Ein bedeutender und bekannter Wissenschaftler wie er konnte sich eines Gegenstandes bemächtigen, indem er bessere mathematische Techniken einsetzte oder einfach indem er ihn sich zu eigen machte, darüber redete und veröffentlichte und weiteren Verzweigungen nachging. Ein solcher Mann konnte sich einladen lassen, in einer wichtigen Konferenz darüber zu sprechen und die eigene Annäherungsweise hervorheben. Er konnte das erste Buch über das Thema herausgeben; Bücher werden immer unter dem Namen des Herausgebers eingeordnet, so daß die eigentlichen Autoren der verschiedenen Beiträge in den Schatten gestellt wurden. Die frühen Tage der Theorie der Schwarzen Löcher hatten solche Manöver gesehen. Lacer, der als erster elektrodynamische Methoden zur Energiemessung Schwarzer Löcher vorgeschlagen hatte, hatte sich unversehens im Abseits wiedergefunden, als ein Mitbewerber das Thema aufgenommen, seine überlegenen Fähigkeiten in der Behandlung von Grenzwertproblemen genutzt, seine Verbindungen in der astrophysikalischen Gemeinde eingesetzt hatte und einfach mehr gereist und mit Reden hervorgetreten war. Obwohl John für Sergio Zaninetti manches übrig hatte, würde er achtgeben müssen, daß er sich und seine Arbeit neben dem prominenten Italiener behauptete.
Zum Abendessen traf er mit Claire zusammen. Ihr auf den kommenden Tag angesetzter Vortrag warf seine Schatten voraus, und sie war nervös. Sie hatte den ganzen Tag in der Universitätsbibliothek von Harvard daran gearbeitet, weil sie ihrer Universität mißtraute. Die Bibliothek war außerhalb der Examenszeiten, wenn die Studenten sie plötzlich wiederentdeckten, ziemlich leer.
Das Museum hatte Wert darauf gelegt, daß der Würfel selbst zur Schau gestellt werde, doch hatte Abe diese Möglichkeit ausgeschlossen. Dies hatte lange Telefonate mit sich gebracht und endlich zu einem Kompromiß geführt: Claire würde ein paar Diapositive vom Würfel in seinem gegenwärtigen Zustand zeigen, obwohl er größtenteils von Abes diagnostischen Geräten eingekreist war.
»Ich werde am Morgen ein paar Aufnahmen machen«, sagte Claire, zurückgelehnt in einem Korbsessel ihres Wohnzimmers. »Das gibt dem Museum Zeit, die Dias zu entwickeln und zu rahmen. Du könntest mich begleiten, ja? Ich werde mit der Beleuchtung Hilfe brauchen.«
»Klar.«
»Danke. Gott, was für ein Tag!« Sie drückte ihre letzte Zigarette aus und blickte sehnsüchtig auf den Stummel. »Es gibt soviel, was in dem Vortrag untergebracht werden muß. Ich habe keine Ahnung, welche Bedeutung die kubische Form hat. Und diese metallischen Reste am Grund der Meißelspuren – ich glaube, sie rühren von Farbresten her, die sich dort hielten, und die von der Gammastrahlung aus dem Innern des Würfels chemisch verändert wurden. Aber ich bin nicht sicher, und zu einer chemischen Analyse sind wir noch nicht gekommen. Sollte ich den Punkt in den Vortrag aufnehmen?«
»Ich würde es ruhig tun. Du brauchst dich ja nicht auf eine bestimmte Erklärung festzulegen, weißt du.«
Sie nickte und seufzte. »Außerdem erhielt ich einen Anruf von meiner Mutter.«
»Mmh?« machte John diplomatisch.
»Sie las eine Zeitungsnotiz über den Vortrag. Sie will hinkommen.«
»Gut. Du wirst sie überrumpeln, und die Stadt wird dir zu Füßen liegen.«
Sie verzog das Gesicht. »Oder an die Kehle springen. Ich fürchte, Kontos wird erscheinen.«
»Das ist möglich. Am Montag wird er sowieso diplomatische Schritte einleiten.«
»Ich bin überzeugt, daß er die Rückkehr erwirken kann.«
»Damit werden wir uns später auseinandersetzen.« Es war nicht nötig, daß sie darüber brütete. »Was macht es aus, wenn Kontos zu deinem Vortrag kommt?«
»Er kann im Zuschauerraum aufspringen und mich anklagen. Eine Szene machen. Das wäre erst etwas für die Zeitungen,
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