Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
ganz anderes als die Summe des Werts all der einzelnen schönen Erfahrungen, die wir machen, machen können, zu machen erhoffen.[ 11 ] Vielleicht besteht der Wert des Lebens darin, überhaupt Erfahrungen machen zu können. Oder noch einfacher: Der Wert des Lebens besteht schlicht darin, dass wir leben.
Was folgt daraus für die Moral? Daraus folgt, dass es zwar viele verschiedene Arten von Schäden gibt, die wir anderen zufügen können – wir können ihnen Schmerzen bereiten, ihnen einen schönen Tag vermasseln, ihnen etwas Wertvolles entwenden; aber dass es eben eine davon unabhängige, eigenständige Form von Schaden ist, wenn wir ihnen «das Leben nehmen», ihre Existenz beenden. Wenn man jemandenerschießt oder ersticht, besteht das Verbrechen nicht nur darin, dass man dieser Person mit einer Waffe schwere Schmerzen zufügt; es liegt auch nicht nur darin, dass man ihr die Freude zunichte macht, ihrem kleinen Sohn am Abend eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, ihm später beim Erwachsenwerden zuzusehen, ihre Karriere fortzuführen oder um die Welt zu reisen. Sondern man nimmt ihr all dies und noch viel mehr.
Außer in Situationen der Notwehr verstehen wir daher auch in unserer Alltagsmoral das Verbot zu töten als zentral und nahezu absolut. Es ist so tief in uns, unserem Alltag und unserer Gesellschaft verankert, dass die meisten von uns im Laufe ihres ganzen Lebens nicht einmal mit diesem Verbot in Berührung kommen, sie also nie einen inneren Konflikt zwischen Töten oder Nicht-Töten (von Menschen) austragen müssen. Dagegen kommen wir zig Mal am Tag in Versuchung, die Wahrheit zu «schönen», und fast jeder hat schon einmal im Leben fremdes Eigentum mitgehen lassen. Auch physische Gewalt ist unter Menschen, gerade unter Nahestehenden, leider weit verbreitet – aber eben nicht Mord und Totschlag. Obwohl Krimileser geneigt sind, jedes Mal, wenn eine reiche alte Dame stirbt, einen gierigen Erben als Ursache zu vermuten, kommen in Deutschland laut offizieller Kriminalstatistik nur etwa 400 Homizide pro Jahr vor (und 800 Mordversuche).
Der Wert des Lebens steht dermaßen hoch über den meisten anderen, auch essentiellen Gütern, dass wir, außer wenn wir selbst massiv angegriffen werden, gar nicht erst in Situationen kommen, in denen das Abwägen eines anderen Guts gegen den Wert des Lebens auch nur ansatzweise legitim wäre. Gerade weil das Tötungsverbot so zentral ist, muss es selten explizit gemacht werden und ist beinahe unsichtbar. Man bringt kleinen Kindern nicht als erstes bei, sie dürften nicht töten, sondern sie sollen nicht «hauen», nicht lügen, nicht stehlen und nicht «gemein sein». Man braucht ihnendas Tötungsverbot nicht erst beizubringen, denn dass wir einander nicht töten dürfen, ist die implizite Ausgangsvereinbarung unserer Gesellschaft.
Das gilt allerdings nur, soweit es Menschen betrifft. Bei Tieren haben wird deutlich weniger Skrupel. Die Tötung von Tieren ist nicht Ausnahme, sondern Regel, ob für die Kleidung oder zu Nahrungszwecken. Allein 60 Millionen Schweine und 600 Millionen Hühner werden in Deutschland jährlich geschlachtet. Und hier liegen nicht einmal essentielle Gründe vor, die gegen den Wert des Lebens abgewogen werden könnten. Gewiss, wir brauchen Kleidung, wir brauchen Nahrung. Aber nicht diese Kleidung, nicht diese Nahrung. Wir müssen keinen Pelz tragen, keine Schuhe aus echtem Leder; wir müssen Gänsen nicht die Federn ausreißen lassen,[ 12 ] sondern können unsere Winterjacken mit synthetischen Materialien mindestens genauso gut füllen; wir müssen kein Fleisch essen, keinen Fisch, müssen uns nicht von der Muttermilch anderer Spezies ernähren etc. Wenn man erneut das Bild der Waage heranzieht, sollte man ehrlicherweise sagen, dass in der einen Waagschale nicht Kleidung und Nahrung liegen, sondern Gewohnheiten, Traditionen, Vorlieben, Genuss, Geschmacks- und Modevorstellungen. In der anderen liegen Millionen Leben.
Ich hatte im letzten Kapitel ja bereits eingeräumt, dass eine leichte Voreingenommenheit zugunsten des Menschen wohl verständlich oder gar verzeihlich ist. Aber solche Voreingenommenheit wird das Abwägen nur um einen geringen Faktor verändern, und wir dürfen ihr auch nur nachgeben, wenn annähernd gleiche Güter auf Seiten des Menschen und eines Tiers auf dem Spiel stehen. Das ist bei Ernährungsgewohnheiten nicht der Fall.
Oder ist das Leben eines Tiers vielleicht doch etwas gänzlich anderes als das eines Menschen? Aber warum
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