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Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Titel: Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilal Sezgin
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Leben sind, sind wir. Und zwar sind wir Subjekte unseres Lebens. Damit ist hier nun etwas anderes gemeint als die Unterscheidung zwischen moralischen Subjekten und Objekten im vorigen Kapitel; Subjekt meint in diesem Zusammenhang: Wir
nehmen
unsere Umgebung mittels unserer Sinne
wahr,
wir haben ein eigenes Gefühls-
leben.
Dabei lässt sich das Wertvolle am Leben nicht nur auf die schönen Erlebnisse reduzieren, sondern wertvoll ist bereits, dass wir überhaupt etwas erleben. Wie im Falle des schwer verletzten Motorradfahrers, der auf den Rettungswagen wartet, gibt es einige, hoffentlich seltene Situationen oder Phasen im Leben, in denen jemand sein Leben gern gegen den spontanen Tod eintauschen würde, um Qualen zu entkommen. Aber meistens sind wir doch schlicht froh, am Leben zu sein. Dazu muss das Leben nicht voll spektakulärer Glücksmomente sein, und es wäre ein Irrtum zu meinen, der Wert des Lebens bestünde nur im gesammelten Wert der einzelnen Glücksgefühle. Leben ist an sich bereits wertvoll.
    Ich würde hier gern jeglichen kulturkonservativen Unterton vermeiden, bin mir aber nicht sicher, ob es gelingt, wenn ich sage: Das Leben in relativem Wohlstand und relativer Sicherheit verführt bisweilen zu dem hedonistischen Missverständnis, das Leben müsse eigentlich eine Aneinanderreihungvon Freuden oder zumindest angenehmen Erlebnissen sein. Dabei übersehen wir etwas: Zu sagen, dass das Essen in der Kantine schlecht war, impliziert, dass es in der Kantine Essen gab. Mit einem langweiligen Tag unzufrieden sein kann nur, wer überhaupt am Leben ist. Dabei ist ein Leben, wenn es langweilig oder ereignislos erscheint, in seiner Glücksbilanz immerhin neutral! Doch um am Leben zu bleiben, nehmen wir sogar enorme Belastungen und Schmerzen in Kauf, zum Beispiel im Rahmen von Krebstherapien, die oft aus einer Serie von Angst, Schmerzen, Übelkeit bestehen, aber eben auch Hoffnung auf ein Weiterleben geben.
    So wie man den Wert von Nahrung oder menschlicher Gesellschaft am leichtesten wertschätzen kann, wenn man eine Zeitlang Mangel an beidem hatte, hilft es manchmal, sich den Wert des Lebens mithilfe derer vor Augen zu führen, für die ihr Leben tatsächlich keine Selbstverständlichkeit ist. Es ist erstaunlich, als wie lebenswert Menschen auch noch ein Leben empfinden, das von außen gesehen völlig verarmt zu sein scheint. Ein Psychiater hat mir einmal von den Ergebnissen einer Studie über Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) berichtet. ALS ist eine Degenerationskrankheit der Nerven, in deren Folge es innerhalb weniger Jahre zu spastischen Lähmungen, zum Verlust der Kontrolle über alle möglichen Muskeln bis hin zur Atemlähmung kommt. Im späteren Krankheitsstadium kann der Kranke keine alltägliche Tätigkeit mehr selbständig ausführen, befindet sich also in einem Zustand von Hilflosigkeit und Abhängigkeit, der für einen gesunden, beweglichen, halbwegs autarken Menschen zu den schrecklichsten Horrorvisionen zählt. Viele Gesunde neigen daher auch dazu, lebensverlängernde Maßnahmen für sich selbst in solchen Fällen per Patientenverfügung auszuschließen oder gar aktive Sterbehilfe zu befürworten.
    Um die Triftigkeit solcher Entscheidungen zu überprüfen, untersuchte vor einigen Jahren ein Neurologen-Team diesubjektive Beurteilung der eigenen Lebensqualität von mehreren Dutzend ALS-Patienten.[ 9 ] Zu den erstaunlichen Ergebnissen zählte: «Die Lebensqualität von ALS-Patienten unterschied sich nicht wesentlich von gesunden Kontrollpersonen; Depressionen waren vergleichsweise selten.» Und sogar: «Zwischen physischen Einschränkungen aufgrund von ALS und Depression oder Lebensqualität ergab sich kein Zusammenhang.» Auch schwer beeinträchtigte Patienten scheinen die Erwartungen an ihre Lebensqualität an ihren derzeitigen Zustand anzupassen, und, was für unser Thema hier am wichtigsten ist: Sie sind schlicht gerne am Leben.
    Dieses Ergebnis, das durch Studien zu ähnlichen Krankheitsbildern bestätigt wurde, ist für einen gesunden Menschen, der doch ständig so viel vom Leben erwartet, erst einmal überraschend. Denn wenn wir jemanden absichtlich in diesen Zustand versetzen würden, ihn unfähig machen würden, sich selbst zu bewegen, zu ernähren oder eigenständig zu atmen, wäre dies eine brutale Schädigung und Beraubung. Aber jemand, der in diesem Zustand ist, empfindet sein Leben nicht als völlig verarmt.[ 10 ]
    Der Wert des Lebens, darauf kommt es hier an, ist also mehr und sogar etwas

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