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Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Titel: Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilal Sezgin
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nach Sexualität oder die Unausweichlichkeit des Todes? So plausibel dieser Gedankengang auf den ersten Blick ist, so irreführend ist er doch: Wir können nicht sagen, was ein Mensch als reines Naturwesen tun würde, weil dieses Naturwesen nicht existiert; es ist den Menschen als Spezies wesentlich bestimmt, Kulturwesen zu sein.
    Gewiss, als körperliches Wesen muss und will der Mensch essen. Doch was er isst, was ihm schmeckt, was als normal oder luxuriös, als essbar oder unappetitlich gilt, das ist menschheitsgeschichtlich unglaublich variabel. Prähistorische Menschen haben auch Artgenossen gegessen, vor allem Gefangene anderer Stämme, die sie anscheinend extra zudiesem Zweck überfallen haben; sie haben auch, je nach Nahrungsangebot, verendete Tiere oder Beutereste, die andere Tiere übrig gelassen hatten, verzehrt.[ 4 ] Frühere Menschen haben im Übrigen auch viel gehungert, weil sie Ackerbau und Vorratswirtschaft noch nicht in unserem Ausmaß beherrschten; sie sind oft an Krankheiten gestorben, die für jeden Arzt leicht zu behandeln sind, seit es Antibiotika gibt.[ 5 ]
    Wer «natürlich» leben will, dürfte im Übrigen weder fernsehen noch gedruckte Mitteilungen wie dieses Buch hier lesen, denn sie verdanken sich hochspezialisierten Kulturleistungen und industrialisierten Herstellungsprozessen. Er dürfte keine Verkehrsmittel benutzen, sondern müsste zu Fuß gehen – und zwar barfuß. Doch der Mensch kämpft nun einmal für seine Bequemlichkeit, wo er kann; der kalten, anstrengenden Natur setzt er die Kultur der Zentralheizung, der ebenen Straßen, der Telefone und Rettungswagen entgegen. Es ist sonderbar, wenn er sich ausgerechnet in dem Moment auf die Natur besinnt, wo es wiederum der eigenen Bequemlichkeit dient, nämlich der Verteidigung des gewohnten Fleischgenusses.
    Wenn der menschliche Fleischverzehr nicht rein natürlich ist, ist es dann wenigstens sein Gegenstand, also das Tier? Sind Tiere nicht Naturwesen, und würden sie nicht auch in der freien Natur von irgendwem gefressen? Nein, denn die Tiere, die wir in den Industriegesellschaften (und in wachsendem Maße auch in den Schwellenländern) essen, sind überhaupt keine reinen Naturwesen mehr. Nicht die Evolution, sondern der Mensch hat sie geschaffen; unsere heutigen Nutztiere sind Ergebnisse menschlicher Züchtungsanstrengungen. Wer sich einmal einen Zweig der modernen Tierzucht genauer angeschaut hat, wird mit Schaudern bemerkt haben: An den Tieren haben wir wirklich nur noch das natürlich gelassen, was wir partout nicht selbst herstellen können, also gewissermaßen das schiere Leben. Alles Weitere – Wachstum, Stoffwechsel, Skelette, Fortpflanzung – wurdeso manipuliert, dass es zu unseren Verarbeitungsindustrien passt.
    Die heutigen Züchtungen haben insbesondere bei Hühnern, Puten, Rindern und Schweinen so stark in die Biologie der Tiere eingegriffen, dass diese allein kaum lebensfähig sind. Ihre Skelette können das schnell wachsende Fleisch manchmal nicht tragen; ohne Schmerzen können sie sich dann nicht bewegen oder hinlegen. Moderne Hochleistungsmilchkühe leiden wegen der hohen Milchleistung unter Euterentzündungen, Gebärmutterentzündungen und Stoffwechselproblemen. Masthühner haben chronische Schmerzen, weil ihre Muskulatur aufgrund des beschleunigten Wachstums zu schwer ist für ihren Körper.[ 6 ] Am Ende der Mastdauer können die Tiere teils nicht mal mehr stehen. Masthühner, die zur Vermehrung eingesetzt werden, muss man «restriktiv füttern», also extra hungern lassen, damit sie leicht genug bleiben, dass der Begattungsakt überhaupt gelingen kann.[ 7 ] Aus demselben Grund – der zu großen Körpermasse – lässt man Puten von Menschen «absamen» und besamen.
    Ohnehin sind heutige Geflügelrassen nur eingeschränkt fortpflanzungsfähig: Hühnereier werden maschinell ausgebrütet, den Legehennen hat man den Bruttrieb weggezüchtet – allein das zeigt, dass die Evolution hier völlig außer Kraft gesetzt ist. Auch der Fortpflanzungsakt und die gesamte Reproduktion der übrigen Nutztiere liegen in menschlicher Hand: Rinder und Schweine werden künstlich ent- und besamt, Eisprung und Geburten mit Hormongaben terminiert. Danach verbringen die Tiere ihr kurzes Leben auf Betonboden, fressen industriell hergestelltes Futter, schließlich werden sie in LKWs abtransportiert und am Fließband getötet. Damit erzähle ich Lesern und Leserinnen von Jonathan Safran Foer wenig Neues, ich will mit diesen Beispielen nur

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