Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
trägt dieselbe Frage mit jeder erjagten Maus in unser Leben hinein, und nicht nur mit der Maus, sondern auch jedes Mal, wenn sie tagelang im Wald verschwindet, wo wir sie nicht kontrollieren können, wo wir ein Tier, das drinnen beinah Familienmitglied ist, als Naturwesen davonziehen sehen und den Gefahren der Natur überantwortet wissen.
In beiden Fällen – bei
policing nature
und bei der Katze – stoßen die menschliche Moral und die Eigenlogik natürlicher Vorgänge aneinander, und wiederum verursacht dies Reibung. Unsere Moral interessiert sich für das Wohl des Individuums, sie respektiert jedes einzelne als Zweck an sich, jedes Leben zählt; die Natur hingegen bringt ständig ungezählte Lebewesen hervor und schleudert Nachkommen geradezu in die Welt hinaus in der Hoffnung, dass wenigstens ein paar davon überleben. Wo sich beide Sphären begegnen, kommen die klaren Grenzen durcheinander. Dann werden wir darauf gestoßen, dass es letztlich immer nur
unsere
Kriterien sind, mit denen wir Ordnung in eine Welt zu bringen versuchen, die an sich eher chaotisch ist.[ 40 ] Wir werden daran erinnert, dass es in der Natur nicht nur so viel Schönes, sondern auch nahezu unendlich viel Leid gibt, das wir überhaupt nicht beeinflussen können. Die Frage nach
policing nature
entsteht aus einem gewissen Schmerz heraus, den wir angesichts all dieses Leides empfinden. Es handelt sich um eine Art «Schuldüberschuss»:[ 41 ] Es mag sich oft anfühlen wie Schuld, ist streng genommen aber keine. Wir können nichts dafür. Wir können auch nichts dagegen tun. Wir sind nicht verantwortlich.
Neben dem immensen tierischen Leid, das wir Menschen verursachen und dem wir entgegenwirken können und sollen, ist und bleibt vieles andere von uns jedoch nicht zu verhindern, nicht zu beeinflussen. Es gehört zu jenem Teil irdischen Lebens, der sich vollzieht, ohne sich um menschliche Unterteilungen in gut und böse zu scheren, und dabeiSchönes wie Schreckliches in unglaublicher Fülle hervorbringt. Je mehr wir am Leben von Tieren Anteil zu nehmen beginnen, desto mehr bekommen wir von ihnen mit, fühlen mit ihnen auch da, wo wir an die Grenzen unseres Handelns gekommen sind.
Die gewalttätige Gesellschaft
Es ist an der Zeit, noch einige «Schulden» zu begleichen, nämlich die Frage des Speziesismus wieder aufzugreifen, deren Beantwortung ich bislang offen gelassen habe. Im ersten Kapitel hatte ich Speziesismus als die unfaire Bevorzugung von Angehörigen der eigenen Art charakterisiert; in dem Kapitel über Tierversuche hatte ich geschrieben, ich sei bereit, für den Gang der Argumentation eine Art milden Speziesismus zuzugestehen: Wenn wir Angehörige der eigenen Art gegenüber anderen Tieren bevorzugen, sei dies bis zu einem gewissen Grad verzeihlich. Aber bis zu welchem? Die Frage, ob die Rechte von Tieren wirklich genauso viel Gewicht haben wie die von Menschen, hatte ich vage gelassen – und habe damit vermutlich den Eindruck erweckt, ich würde diese Angelegenheit irgendwann im Verlauf des Buches endgültig klären. Jetzt wäre es wohl so weit, aber ich fürchte: Ich kann es nicht.
Und zwar lässt sich meines Erachtens weder sagen, dass die Rechte von Tieren immer exakt denselben Stellenwert haben wie die von Menschen, noch gilt das Gegenteil, dass sie ihnen untergeordnet sind. Damit meine ich natürlich: wenn es um dieselben Rechte geht. Manche Rechte haben nur Menschen, weil nur Menschen sie brauchen: das Recht auf Schulbildung oder Pressefreiheit. Andere Rechte haben wir ebenso wie Tiere: das auf Unversehrtheit, auf unser Leben. Aber wie weit genau reicht dieses «Ebenso»? Das typisch philosophische Rettungsboot-Problem wird wohlselten auftreten: dass wir einmal entweder einem Tier oder einem Menschen aus derselben Notlage helfen müssen und dann nur für eins der beiden Individuen die Kapazitäten haben. Doch es gibt verwandte, weniger drastische Situationen, in denen sich zeigen wird, ob wir den Rechten der Tiere denselben Stellenwert beimessen wie denen der Menschen. (Übrigens: Nehmen wir eigentlich die Rechte aller Menschen gleich ernst? Ich fürchte, nicht. Orkanschäden und Erdbeben in einigen Teilen der Erde nehmen in unseren Nachrichten einen ungleich größeren Raum ein als Katastrophen anderswo.)
Wenn sie ehrlich sind, werden wohl auch die meisten Tierrechtler einräumen, dass sie speziesistische Unterschiede machen, wenn nicht bereits in der Theorie, so spätestens in der Praxis.[ 42 ] Zum Beispiel fahre ich
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