Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
sind, Zeugen dieser Gewalt zu werden».[ 48 ] Darum, meint Joy, sei ein wichtiger erster Schritt, dass wir uns bereitfinden, diese Gewalt gegen Tiere überhaupt erst einmal wahrzunehmen und zu bezeugen.
Inwiefern hilft es, den Begriff der Gewalt in die Diskussion um Tierethik einzuführen? Insofern Gewalt etwas ist, das in einer zivilisierten Gesellschaft rechtfertigungsbedürftig ist. In einer zivilisierten Gesellschaft ist Gewalt der Idee nach so weit gebannt, dass sie sozusagen nur als Korrekturmaßnahme[ 50 ] oder im Notfall vorkommen darf. Wir lösen Konflikte nicht mit Fäusten, sondern mit Regeln oder Worten. Eigentlich. Natürlich gibt es außer dem Mensch-Tier-Verhältnis noch andere «blinde Flecken», die in dieser geschönten Bilanz unserer Gesellschaft nicht vorkommen. Sexuelle Gewalt zum Beispiel scheint seit Jahrzehnten einfach nicht zurückzugehen. Aber wir finden sexuelle Gewalt nicht in Ordnung. Politisch unternehmen wir wohl zu wenig gegen sie, aber sie ist immerhin verboten.
Gewalt gegen Tiere wiederum ist nicht nur erlaubt, sondern sogar institutionalisiert. Ein riesiger Wirtschafts-, Technik- und Wissenschaftsapparat beschäftigt sich damit, wie man aus Tieren noch gewinnbringender Nahrungsmittel erzeugen kann. Wir Bürger subventionieren die Tierhaltung und teils sogar den Bau von Großschlachtereien, wir bauen Straßen und Kläranlagen aus, um den An- und Abtransport von Futtermitteln und Gülle zu regulieren, die längst nicht mehr von gesunden Böden aufgenommen werden kann. Wir beschäftigen an Universitäten und landwirtschaftlichen Forschungsanstalten Menschen dafür, dass sie Metallketten zu Schweinespielzeug umfunktionieren; dass sie ausmessen, wie stark die Skelettschmerzen verzüchteter Masthühner sind; oder dass sie Kühen ein Loch in den Bauch operieren, damit man ihre Verdauungsvorgänge von außen besser manipulieren kann.
Wollen wir eine solche gewalttätige Gesellschaft sein? In der wir Kindern Bilderbücher über Heile-Welt-Bauernhöfe oder Trickfilme über das Schwein Lilly zeigen, das «gerne»und «stolz» als Schnitzel endet, während der Tod im Schlachthof «undeutlich» bleibt – weil wir den Kindern die Wahrheit über die Herkunft ihres Essens nicht zumuten können? Weil sogar Thriller- und Actionfilm-gestählte Erwachsene abends oft den Fernsehsender wechseln, wenn ein schier unerträglicher Bericht über Schweine- oder Putenmast kommt?
Wenn wir uns eingestehen, dass es sich bei unserer Landwirtschaft mit Tieren (und fast jeder weiteren Nutzung von Tieren) um gewaltförmige und gewalttätige Vorgänge handelt, sollten wir uns erinnern: Gewalt muss gerechtfertigt werden. Es ist nicht normal, sie massenweise auszuüben. Gewalt erklärt sich nicht von selbst, und sie ist nicht von vornherein erlaubt. Die Rechtfertigungslast liegt nicht auf der Seite derer, die für eine gewaltfreiere Gesellschaft plädieren. Die Rechtfertigungslast liegt bei denjenigen, die die bisherige Form einer Gesellschaft, die routinemäßig Gewalt gegen Tiere ausübt, festhalten wollen.
Sie
müssen erklären, warum dieses Ver-Züchten, dieses Einsperren, dieses Des-Lebens-Berauben, dieses Schlachten moralisch akzeptabel sein sollen.
Und dieses «sie» sind natürlich: wir alle. Ich habe in den letzten Jahren viele Dutzend Gespräche über diese Dinge geführt, nicht nur mit Konsumenten, sondern auch mit Landwirten (konventionell und bio), Tierzüchtern, Jägern, Veterinärmedizinern, Angestellten von Firmen, die Futtermittel und Geräte produzieren, und Behördenvertretern. Fast jedes dieser Gespräche war lehrreich, und die meisten auch menschlich angenehm, sogar erfreulich. Die ganz überwiegende Zahl meiner Gesprächspartner hat Verständnis für das Tier und Interesse am Tierschutz gezeigt. Was irgendwie überraschend war, weil sie ja direkt in den Einrichtungen arbeiten, in denen das Leid von Tieren praktiziert wird.
Irgendwann ging mir endlich auf, was der gemeinsame Nenner aller Gespräche war: Jeder von ihnen – von uns! – erklärt sein Handeln vor sich und anderen so, dass er dieDinge etwas besser handhabt als der Durchschnitt. Ich traf keinen, der sagte, dass ihm das Schicksal der Tiere einfach egal ist. Aber noch während seine Schweine im tageslichtlosen Stall durch den wadenhohen Mist wateten und humpelten, erklärte mir ein Landwirt stolz und zufrieden, wie viel glücklicher die Tiere hier seien als in der Massentierhaltung. Die Betreiber der Massenställe heben umgekehrt
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