Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
Sicht der Zuchtsauen, die in Besamungsständen (englisch oft:
rape rack,
Vergewaltigungsgestell) künstlich besamt werden und nach wenigen Jahren Besamungs- und Gebärturnus mit Elektroschockern oder Kunststoffpaddeln auf die Transporter getrieben und zum Schlachthof gefahren werden?
Aus Sicht dieser Tiere erwartet sie fast überall, wo sie mit Menschen zusammentreffen, Gewalt. Und diese Gewalt vollzieht sich beinahe in Nachbarschaft, doch meist außerhalb der Sichtweite der Konsumenten. Selten wissen wir, wo die Massenställe stehen, deren Produkte oder Bewohner imSupermarkt verkauft werden. Wenn sie langgestreckte Gebäude neben der Autobahn sehen, denken die meisten Leute, es seien Lagerhallen. Doch oft wird darin lebendes «Gut» gelagert; erst wenn man gelernt hat, zum Beispiel Schweinemastställe an den typischen hoch gelegenen Fenstern und den Futtersilos zu erkennen, merkt man, dass etliche Gegenden, auch touristische Gebiete, damit übersät sind.
Die Gewalt gegen Tiere ist überall, und meist ist sie sogar institutionalisiert und legalisiert. Dabei sind wir doch eigentlich eine Gesellschaft, die physische Gewalt, zumal gegen Schwächere, Unterlegene, Abhängige, als verwerflich ansieht. Mir selbst ist dieser Widerspruch – oder dieser blinde Fleck in unserer gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung – nie aufgefallen, bis ich auf einer Konferenz im Mai 2010 einen Vortrag der Soziologin Melanie Bujok hörte. Er war viel differenzierter, als ich es wiedergeben kann, aber ehrlich gesagt war ich schon damals nicht in der Lage, alles aufzunehmen, weil meine Gedanken ständig um Bujoks einleitende Worte kreisten, die mir unmittelbar richtig schienen: Sie sagte sinngemäß, dass wir zwar oft über Gewalt gegen Menschen sprechen und dass es den Ausdruck «Gewalt gegen Sachen» gibt; aber «Gewalt gegen Tiere» gibt es in unserer Sprache und unserem Denken nicht.[ 46 ] Menschen zusammenzuschlagen ist selbstverständlich Gewalt. Autos abzufackeln nennen wir auch Gewalt. Das «außerplanmäßige» Zufügen von Schmerz nennen wir Tierquälerei – aber was ist mit all den täglichen physischen Verletzungen und Tötungen, zum Beispiel dem Schlachten? Das Zusammentreiben und physische Niederzwingen von Tieren, das Fixieren von Schweinen und Kühen zwecks Besamung – ist das nicht Gewalt?
Zudem wird Gewalt gegen Menschen als erklärungsbedürftig und potentiell pathologisch angesehen. Da muss doch irgendwas an dem Menschen «nicht stimmen», vermuten wir, wenn er immer wieder anderen Gewalt antut. Aber Gewalt gegen Tiere – die wir wie gesagt gar nicht so benennen– halten wir für normal. Wir meinen, es sei keine bestimmte psychische Konstellation, keine Aggression, keine moralische Verhärtung nötig, um Tieren das anzutun, was wir ihnen jeden Tag antun. Nur ganz selten fragen wir uns angesichts der Bilder aus Tierversuchslaboren, was das für Menschen sein mögen, die dort arbeiten. Wer kann eine Metallplatte am offenen Schädel einer Katze festschrauben?
Doch sollten wir dann nicht auch fragen: Welche Menschen können Dutzende von Tieren pro Stunde «abstechen»? Oder Schweine und Kühe künstlich besamen, oder Kühen die Kälber wegnehmen, oder lebende Hummer in einen Kochtopf stecken, oder tote Ferkel auf einen Spieß stecken, oder Fische auf ihren Tellern zerschneiden und aufessen … Wer sind eigentlich die Menschen, die für die Opfer solcher Gewalthandlungen – darf ich das so formulieren? – Geld ausgeben wie für ganz normale Ware? Anscheinend wir alle … Und wenn wir es inzwischen nicht mehr tun, haben wir es doch viele Jahre lang getan.
Was wir in den Supermärkten sehen, ist ja nur das Endprodukt einer langen Kette gewalttätiger Handlungen. Wir alle wissen von den vielen brachialen Handlungen, die dem vorausgegangen sind. Es sind nicht vereinzelte Individuen, die bisweilen in solche Gewalt «entgleisen», sondern wir sind eine wesentlich gewalttätigere Gesellschaft, als wir offenbar wahrhaben wollen. Gewalt gegen Tiere ist allgegenwärtig, findet jederzeit statt und gilt als normal. Die amerikanische Psychologin Melanie Joy nennt das Überzeugungssystem, das uns vermittelt, Tiere seien zum Essen da, «Karnismus». Karnismus erklärt Gewalt an Tieren für normal und bringt «ganz normale Leute dazu, Dinge zu tun, die wir normalerweise nie tun würden».[ 47 ] Viele Elemente unserer Fleisch erzeugenden Wirtschaft und Industrie sind sogar «derart gewalttätig, dass die meisten Menschen nicht bereit
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