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Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Titel: Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilal Sezgin
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auch während der Zeit der Krötenwanderung Auto; ich halte zwar oft an, um Kröten über die Straße zu tragen, aber sicher überfahre ich gelegentlich auch eine. Wenn es nicht Kröten, sondern Menschen wären, die da auf unserer Dorfstraße säßen, würde ich in diesen zwei Wochen das Auto stehen lassen. Allerdings: Wenn nicht Insekten, sondern Kröten im Sommer dutzendfach an der Windschutzscheibe meines Autors zerschellen würden, gälte dasselbe. Offenbar unterscheide ich deutlich zwischen Mensch, Kröte und Insekt.[ 43 ]
    Dass Insekten ein wenig die Stiefkinder der Tierethik sind, habe ich bereits zugegeben; dafür gibt es auch biologische Gründe. Hingegen ist ein so großer moralischer Unterschied zwischen Mensch und Kröte schwer zu verteidigen. Denn einerseits spricht alles dafür, dass die Idee der Rechte mit der des Egalitarismus verknüpft ist: Wenn man sagt, man solle die Empfindungen und Wünsche anderer Subjekte berücksichtigen, scheint zwingend, dass sie (in gleichen Situationen) auch
gleichermaßen
berücksichtigt werden sollen. Anders hat die Sache doch wenig Sinn, jedenfalls, wenn es um grundlegende Rechte wie das auf Leben und Unversehrtheitgeht. Man kann zu jemandem nicht sagen: Du hast das Recht auf Leben – ein bisschen.
    Andererseits sehe ich nicht – noch nicht? –, wie wir mit diesem Egalitarismus ganz Ernst machen wollen oder können, gerade wenn es auch um wild lebende Tiere geht, die unseren Weg, oft im wahrsten Sinne des Wortes, kreuzen. Den brachialen Speziesismus, der unsere Landwirtschaft und unsere sonstigen Systeme von Tiernutzung beherrscht, können und sollten wir abschaffen; aber was ist mit subtileren Formen der Ungleichbehandlung? Können wir uns so etwas wie eine volle Gleichberechtigung auch nur annähernd vorstellen?
    Vielleicht aber stelle ich hier die falsche Frage, oder zu früh. Zu früh insofern, als wir nun einmal in einer Welt aufgewachsen sind und in einer Welt leben, in der Speziesismus und die Ausbeutung von Tieren selbstverständlich und allgegenwärtig sind. Die grausamsten Dinge sind derzeit gang und gäbe, wenn sie einem Menschen nur ein klein wenig Gewinn bringen, sei es auch auf Kosten etlicher Tiere. Der Gedanke umfassender Tierrechte ist noch neu und unvertraut, beginnt sich gerade erst in der Praxis von immer mehr Menschen zu verankern. Doch moralische Überzeugungen werden auch durch unsere bisherigen lebenslangen Erfahrungen geformt, in diesem Fall durch unsere Erfahrungen mit Tieren. Und zwar nicht nur durch solche mit konkreten lebenden Tieren, sondern auch mit gesichtslosen toten, denen wir überall begegnen: im Supermarkt, bei der Grillparty, auf jedem Büfett. Zeitungen und Nachrichtensendungen berichten in munterem Ton von den qualvollsten Tierversuchen, die als Indiz für den Fortschritt gelten; unsere Biologiebücher legen beredtes, aber meist überhörtes Zeugnis davon ab, was man Lebewesen alles angetan hat, um den «Geheimnissen des Lebens» auf die Spur zu kommen.
    Vergangenes Jahr habe ich mir ein Lehrbuch der Verhaltensbiologie gekauft; aber ich kann nicht mehr darin lesen.In dem Abschnitt über die sinnesphysiologischen Grundlagen der räumlichen Orientierung bin ich auf ein Foto gestoßen, das ein Rotkehlchen mit einem abgeklebten Auge zeigt: ein gefangener Vogel mit Leukoplast überm halben Kopf.[ 44 ] Dank solcher Versuche wissen wir, wie großartig bei Vögeln die Orientierung am Magnetfeld der Erde funktioniert; aber ist es nicht paradox, das Rotkehlchen dafür zu bewundern, was es alles kann, nachdem man es ungeniert derart malträtiert hat? Und so etwas machen Biologen?
    Solche Erfahrungen, Begegnungen und Bilder formen unser Verständnis davon, was Menschen sind, was Tiere sind und wie wir zueinander stehen. Die Ungleichbehandlung und Missachtung des Tiers ist tief in unserer Gesellschaft verankert – ich glaube, wir sind überhaupt erst dabei, die Decke am äußersten Zipfel ein wenig anzuheben. Selbst wenn wir wollen, können wir nicht beliebig weit über den Rand dieser Gesellschaft und unseres Erfahrungshorizonts hinausblicken und in einer komplett speziesistischen Welt völlig un-speziesistisch denken.[ 45 ]
    Und wie sieht diese Welt eigentlich aus der Sicht der anderen aus? In welchem Licht erschiene unsere Gesellschaft, wenn wir sie aus den Augen unserer Nutztiere betrachten könnten? Aus der Sicht der Küken, die mutterlos auf dem Betonboden sitzen und piepen; aus der Sicht der Kuh, der man das Kalb nimmt; aus der

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